Niemand sucht nach der verlorenen Heimat

…)„Heimat“ erinnert an nichts, das man schon kennt. Das macht den Film einmalig, unverwechselbar.


(…)„Heimat“, der Film von Edgar Reitz, war unstrittig der Höhepunkt des Filmfestes. „Heimat“ war ein Filmfest in sich selbst. Es dauerte, in zwei Blöcken präsentiert, 16 Stunden, erzählte das Leben einer Großfamilie im Hunsrück, von 1918 bis 1980, mit 28 Hauptdarstellern, 5 000 Laiendarstellern in 28 km montiertem Zelluloid. Das klingt wie eine Materialschlacht im Hollywood-Epos, ist aber in Wahrheit die deutsche Herausforderung amerikanischer Serien wie „Dallas“ und „Holocaust“ in einem, was der Wahrheit stärker entspricht als eine Aufteilung in Politik- und Familienserien. In seinem Buch „Liebe zum Kino“ (soeben im „Verlag Köln 78“) erschienen, schreibt der Regisseur: „Es gibt in unserer deutschen Kultur kaum ein ambivalentes Gefühl, kaum eine schlimmere Mischung von Glück und Brutalität als die Erfahrung, die hinter dem Wort .Heimat’ steht.“

Dieser Film – als Serie von der ARD von September an ausgestrahlt – löst das Tabu, das auf dem Wort und seinen politischen Vibrationen lag. Seit der Philosophie Ernst Blochs hat kein Medium so eindringlich Heimat ohne Chauvinismus reklamiert wie dieser Film, der dem Glück und der Brutalität, den guten wie den schlimmen Wünschen Raum gibt, ohne ihnen die Freiheit der Beliebigkeit zu geben. Heimat ist immer ein Schauplatz der Durchdringung mit Ambivalenten, die um keinen Preis zu unterdrücken sind. Es sei denn, den der realen Gewalt, des Faschismus. Das zeigte der Zarah-Leander-Film „Heimat“, der in diesem Film nicht bloß ironisch aufgegriffen wird.

Edgar Reitz, der selber aus dem Hunsrück stammt, sucht nicht die ihm entglittene Heimat. Er erfindet sich ein Dorf, das Schabbach heißt und dort die Welt bedeutet. Wie kommt Welt ins Abseits? Der Weltkrieg kommt und nimmt Soldaten. Der Krieg ist vorbei und bringt nur einen Soldaten zurück, den Heimkehrer. Der schläft vor Erschöpfung ein. Die Heimgebliebenen erzählen sich den Krieg. Paul, der Sohn des Schmiedes, sitzt in der Gemeinschaftsküche an den Holzpfeiler gelehnt. Das wird im Verlauf der Geschichte der mythische Ort, von dem aus die Heimkehrer wieder in die Fremde aufbrechen. Dort treffen sich später Großvater und Enkel wieder: der eine wanderte nach Amerika aus, der andere wird in die Metropolen auswandern, um Komponist zu werden. Der Platz am Pfeiler bietet eine kurze Bleibe.

Die Vernetzung des Dorfes mit Deutschland erfolgt durch die Elektrifizierung und den Bau einer Straße. Die verbindet Bunker mit Bunker, die den Westwall bilden. Allein der Transport der Waffen ruiniert die Straße, noch ehe der Krieg es schafft. Der Bau bringt Menschen aus Sachsen, aus Hamburg und München nach Schabbach. Das Dorf wird zur Drehscheibe für das, was unverrückbar schien, die Tradition. Die Dialekte und die Vorurteile vermischen sich. Das Dorf wird Schauplatz für alle, die große Politik aus zweiter Hand erfuhren.

Die Mitläufer, Befehlsempfänger, die aufgeblähten kleinen Nazis, die tüchtigen Baumeister der Restauration, aber auch die unauffälligen Widerständler, sie tauchen in „Heimat“ auf, ohne zur Karikatur zu verkommen. Das gelingt in großer Form dadurch, daß Reitz das Pathos, das die deutsche Geschichte ausschwitzt, mit Witz abkühlt. Wenn die verliebte Hure aus Berlin im Hunsrück sich entzückt: „Eduard, ick liebe sie, deine Heimat!“ dann folgt ein Schnitt nah auf den Jauchewagen. Die Heimat ist ländlich, der Witz ist urban. Das „falsche“ Bewußtsein wird hier nicht in den Strafraum der Vernunft gestellt, sondern mit kritischer Liebe sich selber ausgeliefert. Niemand sucht nach der verlorenen Heimat. Die Nostalgie erhält ihr Fett und keine freie Bahn. Im Lauf der Zeit wird mit dem Vieh die Tradition des Dorfes verkauft. Der Alltag wandelt auf den Speicher der Antiquitätenhändler. Was Heimat war, wird Allerweltsschauplatz. Da gibt es keine Klage der Romantik.

Reitz lenkt durch seinen Film den Wärmestrom der Geschichte. Das macht dieses Unternehmen zu einem seltenen Glücksfall.

Karsten Witte: „Niemand sucht nach der verlorenen Heimat“ in: DIE ZEIT Nr. 29, 13.7.1984