HEIMAT ist ein Film von Edgar Reitz

Auf die Frage, was Heimat sei, antworten die einen: das Paradox der Hoffnungsphilosophie von Ernst Bloch, und die anderen: ein Film mit Zarah Leander.

Neuerdings wird man, nach den höchst erfolgreichen Aufführungen in München und Venedig, sagen: HEIMAT ist ein Film von Edgar Reitz, der das ziemlich heikle Kunststück fertigbringt, Ernst Bloch und Zarah Leander in eins zu denken, als funkelnde Momente deutscher Geschichte. Von dem einen fällt ein Licht aufs andere. Dieser Film sieht beide Quellen und will doch keine verdunkeln. (…) Wenn Reitz nun die Stirn und das Denkvermögen hat, seine Dorf- und Familienchronik HEIMAT zu nennen, dann bricht er mit dem Tabu auch den Bann ohne Gegenzauber. Er zeigt keine Provinz-Idylle, er leuchtet nur, mit jeder Sequenz schooner und genauer, in die Brutnester, aus denen da deutsche Geschichte kroch. Sein Film ist ein Fresko komischer Verzweiflung, ein Trauerpanorama ohne Wehleid. Denn die bäuerliche Kultur im Hunsrück ist auch unwiederbringlich dahin. Keine Feier gilt ihr, aber doch ein Abgesang. Ein Requiem also, und kunstvolle Totenklage. (…) Die Gegenwart ist vielstimmig, und HEIMAT gelingt es, fast jeder Nebenstimme eine besondere Klangfarbe zu lassen. Das ist bei einer Produktion, die 28 Hauptdarsteller, 140 Sprechrollen ind 5000 Laiendarsteller vereinigen muss, ohne zum Monumentalfilm zu greaten, eine überragende Leistung in der Organisation von Ästhetik. Erklärbar nur im Zusammenhang von Reitzens genauestem Sinn und Respekt für das Detail, für die geringste Abweichung, die er in seiner Komposition anhebt, ohne sie als groß hervorzuheben. (…) Dass alle Schauspieler so gut sind, macht den Film gut, Stars gibt es nicht. Licht fällt auf jeden. Doch sympatisiert die Regie mit keener einzelnen Figur, weil sie stets das Gleichgewicht und die Abhängigkeit des politischen Handelns ihrer Figuren im Auge hat. Die Dialoge in diesem HEIMAT-Epos sind lakonisch und genau. (…) HEIMAT übersetzt die große deutsche Geschichte in eine Dimension, in der sie der Größe entkleidet wird, nämlich die der kleinen Leute, die ihr Leben in Würde auch ohne Größe führen. Man muss diese Erinnerungen hören und sehen, dann kann man Davon nur schwer Abscheid nehmen.

Karsten Witte in: ZEIT, 14.09.1984