Ein Stückchen deutscher Fernsehgeschichte

Seit Mitte September sitzen die Hunsrückbauern sonntags und mittwochs mit besonderer Neugier und Skepsis vor den Fernsehgeräten: Was das Ding ihnen da ins Haus bringt, ist keine fremde Welt, sondern die eigene. Einer von ihnen, ein lange verlorener Sohn, endlich auf Zeit heimgekehrt, hat die Serie „Heimat“ gemacht, mit ihnen und über sie.

Durch ihn ist das fiktive Hunsrückdörfchen Schabbach zum Schauplatz einer exemplarischen deutschen Jahrhundertgeschichte geworden, und die Wirkung, die „Heimat“ seit dem ersten Sendetag hat, besagt: Hunsrück ist überall. (…)

Kein anderer Titel könnte so signalhaft und entschieden Programm sein wie „Heimat“. Die Wiederkehr eines lange verachteten Begriffs und ein neues Gefühl, das das Land in diesen Jahren bewegt – Rückbesinnung auf Heimat, Rückgewinnung von Heimat -, haben diese Film-Unternehmung hervorgebracht und scheinen in ihr eine beispielhafte Erfüllung zu finden.

Die „Heimat“-Serie von Edgar Reitz schreibt Geschichte, wie sich die neue „Heimatkunde“ das wünscht: nicht von oben her, aus der Sicht amtlicher Akten, sondern „von unten“, als Kulturgeschichte des Alltags der kleinen Leute. Der Reitz-Film betreibt Spurensicherung und Lokalhistorie, sein Material sind Privatbriefe, Familien-Photoalben, mündliche Erzählungen von Überlebenden. Sein Stoff ist die kollektive Erinnerung einer Region. (…)

Schließlich: Die „Heimat“-Serie von Edgar Reitz nährt die vage Sehnsucht des Stadtmenschen nach dem Ländlich-Dörflichen, dieses paradoxe Heimweh nach etwas, das man nie besessen hat. Zumal die ersten Folgen der Serie, die mit epischer Ruhe und bedachter Naivität die gute alte Vorkriegszeit ausmalen, zeigen das Dorf als intakte, in sichruhende, in sich aufgehobene Welt: Unmittelbarkeit, Offenheit, Nestwärme, nachbarliche Nähe. (…)

Was der „Heimat“-Unternehmung von Edgar Reitz ihre ganz eigene Kraft gibt, ist die persönliche Nähe: die Leidenschaft und Unbedingtheit, mit der Reitz sich in das eigene Eckchen Heimat verbissen hat. Gerade weil er nur auf seinen Hunsrück geschaut und keinen Moment auf Wirkung in der größeren Welt geschielt hat, ist sein „Schabbach“ beispielhaft geraten, wirklich „Mitte der Welt“ geworden, und die mächtige Zustimmung, die sein Werk nun von Folge zu Folge findet, macht es zu einem Stückchen deutscher Fernsehgeschichte.

Titelgeschichte in: DER SPIEGEL Nr. 40, 1.10. 1984