Das Ende der Luxusneurosen

In Mainz ist im September das restaurierte Frühwerk von Edgar Reitz zu sehen – Ein Gespräch mit dem Autor und Regisseur

Von wegen Ruhestand: Auch mit 76 Jahren arbeitet der weltweit bekannte und erfolgreiche Filmemacher Edgar Reitz wie ein Besessener. Von wegen Altersmilde: Der gebürtige Hunsrücker nimmt kein Blatt vor den Mund. Ein Gespräch über seine monumentale „Heimat“-Trilogie, die ihm Weltruhm einbrachte, über Fernsehmacher und den deutschen Film.

Herr Reitz, vor 25 Jahren, am 30. Juni 1984, hatte „Heimat“ Premiere. Daraus ist eine Trilogie mit dreißig Filmen geworden. Ist Heimat Ihr Lebensthema geworden?


Das konnte man ja nicht voraussagen. Ich habe fünf Jahre an „Heimat“ gedreht und noch während der Dreharbeiten mit den Vorarbeiten für „Die zweite Heimat“ begonnen. Dessen Thema, das Weggehen aus der alten in die neue Heimat, ist darin ja schon angelegt. Das heißt also, dass sich der Stoff für mein „Heimat“-Projekt immer wieder ineinander verzahnt und neu belebt hat. Die Schubkraft dafür ist autobiografisch. Mein Vater war Uhrmacher, der erste in meiner Familie, in der die Männer seit jeher als Schmied gearbeitet haben. Ich bin dann Filmemacher geworden. Von diesen großen Sprüngen von einer Handwerker- zu einer Künstlerexistenz erzählt „Heimat“, und deshalb kann man das in der Tat ein Lebensthema nennen.


Hat dieses Thema denn nun einen Abschluss gefunden?


Das kann überhaupt nie einen Abschluss finden, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen bin ich der Überzeugung, dass die mächtigste künstlerische Inspirationsquelle aller Kunstschaffenden die eigene Kindheit und Jugend ist. Die in dieser Zeit eingeprägten Bilder sind von Dauer und oft von großer Rätselhaftigkeit. Sie zu ergründen ist ein wesentlicher Impuls.

Zum anderen führt das Geschichtenerzählen aus diesen Quellen heraus zu anderen Ergebnissen als das kommerzielle Geschichtenerzählen. Letzteres, zum Beispiel im amerikanischen Kino, ist immer auf das Ende hin konzipiert, auf die Auflösung der Geschichte. Bei den Geschichten, die ich erzähle, gibt es kein Ende. Mich interessieren Querverbindungen und Zusammenhänge, so wie in Volkserzählungen. Deswegen hat „Heimat“ kein Ende, sondern kann jederzeit weitergehen.


Ihr bislang letztes Filmprojekt, „Heimat-Fragmente – Die Frauen“, liegt drei Jahre zurück. Woran haben Sie seither gearbeitet?


Ich habe an mehreren Drehbüchern gearbeitet und auch die Möglichkeit einer Literaturverfilmung erwogen. Ich habe aber bislang von der Umsetzung dieser Stoffe abgesehen, weil ich mich nicht der Leidensgeschichte der Geldbeschaffung aussetzen wollte. Ich möchte mich nicht mehr von Leuten demütigen lassen, die alles besser wissen. Diese Erfahrungen habe ich zur Genüge gemacht. Ich habe sieben Jahre um die Finanzierung von „Heimat 3″ gekämpft. Heute hat sich die Situation in den Medien weiter verschärft, weil dort eine Generation von filmhistorisch militanten Ignoranten herangewachsen ist. Nach diesem 54-stündigen Lebenswerk „Heimat“ ist es wahnsinnig schwer, das nächste Projekt anzugehen. Da muss ich von dem, was ich machen möchte, so sicher und überzeugt sein, dass ich bereit bin, die mit der Geldbeschaffung verbundenen Verletzungen noch zu ertragen.


Sie haben sich in dieser Zeit auch wieder mit ihrem Frühwerk beschäftigt.


Richtig. Gemeinsam mit meinem Sohn Christian habe ich das Frühwerk, bestehend aus Spiel-, Kurz- und Experimentalfilmen, digital restauriert. Möglich war diese Pionierarbeit mit Hilfe der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur, und deshalb freuen wir uns darauf, diese Arbeiten im Rahmen einer Filmwoche in Mainz, die am 20. September beginnt, vorzustellen. Sie sind aber auch als DVD-Edition erhältlich.


2004 hat Ihnen Ministerpräsident Kurt Beck die Carl-Zuckmayer-Medaille verliehen. In Ihrer Dankesrede zitieren sie den Namensgeber des Preises mit dem Satz: „Das Welt-Gefühl ist die natürliche Steigerung des Heimat-Gefühls.“ Was bedeutet dieser Satz für Sie?


Die Zeit zwischen dem zweiten und dritten und dem zehnten und zwölften Lebensjahr sind die innovativsten Lebensjahre eines Menschen, so wenig Eltern und Pädagogen das häufig begreifen. In dieser Zeit formt der Mensch seine Sicht auf die Welt. Dieser Prozess wird wesentlich beeinflusst vom Ort des Aufwachsens. In diesem Sinne habe ich Zuckmayer zitiert. Es kommt noch etwas hinzu, nämlich die inneren Maßstäbe. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, die sich mit dem Problem herumschlägt, wie man mit dem Zuviel glücklich wird. Ich denke, dass es in dieser Entwicklung einen Bruch geben wird. Wir werden wieder zu einer Mangelgesellschaft werden, in der es darum gehen wird, über die Runden zu kommen. Da wird dann keine Zeit mehr sein, die Neurosen des Luxus‘ zu pflegen.


Ist das in Ihren Augen eine bittere Perspektive?


Gar nicht. Wir erleben doch, dass eine Gesellschaft, die nur auf der Ankurbelung von Konsum gründet, nicht funktioniert. Ich glaube an eine Neuentdeckung des menschlichen Geistes, wie im 18. und 19. Jahrhundert. Eine wirklich demokratische Gesellschaft ist ohne eine tiefe Achtung des Geistigen nicht denkbar. Wir brauchen eine solche Hinwendung zum Geistigen. Wenn die Medien das Geistesleben mit Füßen treten, wenn das Fernsehen keine Aufklärungs-, sondern eine Verdummungsinstitution wird, so wie dies leider der Fall ist, dann ist die Demokratie im Innersten gefährdet.


Damit liefern Sie das Stichwort für die nächste Frage. Ist im heutigen Fernsehen noch Platz für Geschichten, die mit großem epischem Atem erzählt werden? Ist ein Projekt wie „Heimat“ heute noch zu realisieren?


Ich bin da Pragmatiker. In dem Moment, da einer kommt und es macht, hat das eine Intensität, die man nicht ignorieren kann. Ich habe in meine „Heimat“-Trilogie eine Wahnsinnskraft investiert. Diese Kraft macht jetzt erst mal eine Pause. Sie müssen etwas anderes bedenken. Viele der Verantwortlichen in den Medien sind fantasielos, mittel bis wenig intelligent, arrogant und gefräßig. Sie wissen aber, dass sie für ein Qualitätsprogramm auf die Ideen und Impulse der Menschen von außen angewiesen sind. Das Problem ist dann halt immer, dass sie deren Pferd reiten wollen.


Liegt es an dieser Einflussnahme, dass „Heimat 3″ vom Publikum und der Kritik so zwiespältig aufgenommen worden ist?


Auch ich nehme „Heimat 3″ zwiespältig auf. Dieses Projekt ist in jahrelangen Kämpfen von Apparatschiks in den Rundfunkanstalten schwer beschädigt worden. Das Werk ist ein Schlachtfeld von Besserwisserei und Einflussnahme. Ich weiß aber ganz genau, an welchen Stellen es dennoch gelungen ist, das zu erzählen, was ich erzählen wollte. Dass es nicht zur Einheitlichkeit gelangte, tut mir nach wie vor weh. Ich bin noch nicht fertig mit den Vorwürfen, die ich denen mache, die das zu verantworten haben.


„Film ist Wahrheit, 24 mal pro Sekunde“, lautet ein berühmter Satz Ihres Kollegen Jean-Luc Codard. Hat Godard Recht?


Was ist denn Wahrheit? Ich habe noch keine Wahrheit getroffen, die am nächsten Tag noch wahr war. Wahrheit ist immer Teil einer Entwicklung.


Ganze Zuschauerscharen haben sich auf den Weg gemacht, um auf dem realen Hunsrück den Spuren der fiktiven Simons und Ihrer anderen Filmfiguren zu folgen. Ist eine solche Vermischung von Realität und Fiktion für Sie als Künstler Freud oder Leid?


Da beruht vieles auf einem Missverständnis, wenn zum Beispiel Menschen für die Filmtoten beten, so wie das schon mal vorkommt. Die Kunst ist eine Realität außerhalb der Realität, eine Zweitrealität. Dass Menschen diese Realitätsebenen nicht mehr auseinanderhalten können, zeigt vor allem, wie sehr Kunst sie zu berühren vermag. Mit Hilfe von Fiktion kann man Menschen auf die Spuren ihres eigenen Lebens führen. Das ist etwas Großartiges, und dafür machen wir das ja. Aber ich nehme nicht Teil an der touristischen Vermarktung von „Heimat“. Ich bin nicht der Zirkusdirektor, der Menschen auf Irrwege führt.


Wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Stellenwert des deutschen Films jenseits von Kassenerfolgen wie„Keinohrhasen“ oder „Der Schuh des Manitu“?


Dass deutsche Filme Kasse machen, kenne ich aus den fünfziger Jahren. Diese Filme waren alle belanglos. Kasse sagt nichts aus über Qualität, und mich interessiert nun mal Qualität, obwohl ich jedem seinen finanziellen Erfolg gönne. Was mich erfreut, ist, dass es im deutschen Film eine Rückbesinnung auf subjektiv erzählte Autorenfilme gibt. Wir haben im deutschen Film hervorragend ausgebildete Leute und einige höchst bemerkenswerte Regisseure, Christian Pet-zold oder Andreas Dresen zum Beispiel, um nur zwei zu nennen. Ich wünsche ihnen allen, dass sie es schaffen, auch international wahrgenommen zu werden. Die Voraussetzungen dafür sind da.


Sie haben die Edgar-Reitz-Filmstiftung gegründet. Was hat Sie dazu veranlasst?


Ich wollte die Rechte an meinen Filmen sichern. Ich habe oft genug gesehen, wie schnell es passieren kann, dass sich ein Lebenswerk in alle Himmelsrichtungen zerstreut, weil Leute Geld brauchen und alles verscherbeln – und dann bekommt man nicht mal mehr die kleinste Retrospektive zustande. Mit dieser Stiftung entsteht auch eine neue Verbindung zu Rheinland-Pfalz, weil ihr Sitz Mainz ist. Ein weiterer Stiftungszweck neben dem Erhalt meines Werks ist es, Projekte der Filmkultur in Rheinland-Pfalz zu fördern.


INTERVIEW: MICHAEL AU UND EDMUND ELSEN

Aus: KulturLAND Nr. 2/2009, S.7-9

Quelle: Edgar-Reitz.de