Wie’s „Herrmännsche“ aus Schabbach ’68 nach Schwabing zieht

FR-Interview mit Edgar Reitz, der mit dem ApO-Epos „Zweite Heimat“ an den Erfolg seiner Hunsrück-Saga anknüpfen will

Edgar Reitz‘ Hunsrück-Epos „Heimat“ war 1984 ein großes, internationales (Fernseh- und Festival-) Ereignis. Der Münchener Regisseur, der davor wenig Fortune hatte („Der Schneider von Ulm“), wurde vom Erfolg seiner elfteiligen Chronik überrascht und ließ sich zu einer Fortsetzung „seiner“ Lebensgeschichte animieren. 1985 machte er sich daran, die Bücher für „Die zweite Heimat“ zu schreiben: Hermann Simon verläßt Schabbach und zieht nach München, gerät Anfang der sechziger Jahre als Student in die damaligen Unruhen und in Künstlerkreise. „Die zweite Heimat“ soll ein Film werden über die „wilden Sechziger, über Film, Musik, die Liebe und das Jungsein“. 1988 begannen die Dreharbeiten, die letzte Klappe fiel im November 1991. Im Herbst nun soll „der vermutlich längste Spielfilm der Filmgeschichte“ fertig sein. Die Premiere der internationalen Coproduktion (13 Partner unter Federführung des WDR) ist für Frühjahr 1993 geplant. Mit Edgar Reitz sprach Thomas Thieringer.

FR: In „Heimat“ unternahmen Sie eine Spurensuche in die (Ihre) Vergangenheit- Die „Zweite Heimat“ ist uns (noch) gegenwärtiger, Sie erzählen da von den Sechzigern. Bringt das auch eine radikalere Auseinandersetzung mit Ihnen selbst?

Reitz: Darauf kann man keine einfache Antwort geben. Die Figur des Herrmännchens in „Heimat“ ist schon eine Art Alter ego von mir, hat also gewisse Merkmale, die auf mich zutreffen. Daß er sich mit Musik beschäftigt, war ursprünglich eine Metapher. Später wurde mir das wichtig, weil die Musik in ihren historischen Dimensionen bedeutender ist als der Film und auch einen größeren internationalen Background hat. Sie ist auch eine sehr große Liebe von mir; Komponist zu sein statt Filmemacher, das ist eine Traum-Alternative für mich.
Aber etwas anderes ist dann doch entscheidend: Eine Figur, mag sie noch so auto biographisch sein am Anfang, beginnt ein Eigenleben und löst sich von der eigenen Biographie, in der Schreibphase durch die erzählerischen Wege, die man einschlägt. Sie kommt mit Figuren zusammen, die aus ganz anderen Quellen stammen, und dieses Zusammentreffen erzwingt erfundene radikalere Lösungen, eine Entfernung vom „realen“ Leben.
Herrmännchen ist also eine Kunstfigur, die sehr viel autobiographische Züge trägt, diese mehr und mehr verliert, auch weil er von einem anderen Menschen gespielt wird, der einen eigenen Charakter, eine eigene Biographie, ein eigenes Temperament in die Rolle einbringt
Heute lebe ich nicht mehr in dem Bewußtsein, eine autobiographische Geschichte zu verfilmen. Dennoch, Ihre Frage hat ihre Berechtigung. Die sechziger Jahre, die in „Zweite Heimat“ beschrieben werden, leben sehr stark von Themen -und Ereignissen, die mir wichtig sind, die ich erlebt habe. Herrmännchen ist allerdings acht Jahre jünger als ich. Er kommt auf die Universität als ich sie gerade verlassen habe. Das ist eine Zeit die mir sehr erzählenswert erscheint weil sie voller Geschichten ist, die uns alle bewegt haben. Sie ist bestimmt von einer „inneren Revolte“, einer Auseinandersetzung mit einer Elterngeneration, die unter dem Verdacht stand, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Das ist eine Zeit, in der ein „Wir“-, ein Generations-Gefühl entstanden ist, das überhaupt der Kern ist der Erzählung. Ich halte die Sechziger genau so für eine Brutstätte Von Geschichten, wie die Dreißiger, in denen ja das „Dritte Reich“ entstanden ist.

FR: Die sechziger Jahre sind uns noch sehr nahe; viele erinnern sich an diese Zeiten. Eine Rekonstruktion der damaligen „Welt“ — in München — erfordert doch große Genauigkeit.

Reitz: Es war sehr interessant zu beobachten, was in einem vorgeht wenn man beim Schreiben in die eigene Vergangenheit eintaucht. Ich mußte in den drei Jahren von 1985 bis -87 permanent in mir Gefühle mobilisieren, die ich damals hatte. Ich studierte die Zeitungen, ganz Jahrgänge. Ich habe mich immer wieder mit Leuten getroffen, mit denen ich Erinnerungen aus jenen Jahren austauschte. Ich habe mir auch meine eigenen Produktionen aus dieser Zeit, mit einem ganz anderen Blick, nochmals betrachtet.
Es gab noch eine Quelle, die ich immer geschätzt habe: private Fotos. In diesen künstlerisch nicht ambitionierten Amateurfotos da lebt etwas, was ich ganz magisch finde. Mit ihnen taucht man ein in eine ganz andere Zeit. Vieles, was ich in den drei Jahren erlebte, wurde auch zurücktransformiert, so daß ein eigenartiges Weltbild entstand.
Ich glaube, daß beim Erzählen alles Fiktion ist. Ein Film ist keine Zeitmaschine; wir können damit ja nicht wirklich zurückkehren in eine andere Zeit. Wir treffen vielmehr eine Übereinkunft mit dem Zuschauer: Stell‘ dir vor, wir erzählen Dir jetzt eine Geschichte. Nun muß ich darauf achten daß die Dinge, die wir zeigen, und die Worte, die wir benutzen, dieser Zeit damals nicht widersprechen, sonst steigt der Zuschauer aus der Übereinkunft aus. Das ist keine sehnsüchtig nostalgische Tätigkeit, kein Rückzug in ein Stück Vergangenheit, keine Flucht aus der Gegenwart, die wir nicht mögen. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich transportiere in diese Geschichte meine gegenwärtigen Gedanken und Empfindungen. Dabei passieren interessante Dinge; man sieht vieles anders. Plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen, daß man aufgehört hatte, bestimmte Fragen zu stellen. Das ist allen an diesem Film Beteiligten klar: Wir versuchen eine bestimmte Fiktion der sechziger Jahre zu erzeugen; daß wir von Empfindungen von Menschen erzählen und daß die von heute sind.

FR: Die Sechziger, vor allem 1968, wurden schon öfter in Fernsehfilmen behandelt, meist läppisch oder verzerrt. Über diese Zeit, über die Studentenbewegung gerecht zu berichten ist, glaube ich, sehr schwierig.

Reitz: Das ist ein Gedanke, mit dem ich mich sehr auseinandersetzte: Wenn man diese Bewegung der „68-Jahre“ beschreibt, die ApO, die Studentenunruhen, die der intellektuellen Jugend, dann ist zum Teil unerträglich zu hören, wie damals gesprochen wurde, zuzuschauen, wie diese Leute mit bleichen Gesichtern sich in der Universität um Mikrophone balgten. Es ist sehr schwer, sie da ernst zu nehmen. Gleichzeitig aber ist es so, daß auf der ganzen Welt die damalige Jungen von einem Feuer erfasst wurde, einer demokratischen Begeisterung und einer großen Hoffnung. Dies muß man gerechterweise also auch beschreiben. Das hat für mich nichts Lächerliches, ich sehe das eher als eine Tragödie und beschreibe den Aufbruch dieser Generation auch so.
Tragisch sehe ich, wie einige damals die Ideen besonders wörtlich nahmen und zum Terrorismus überwechselten. Auch eine meiner Hauptfiguren gerät in diese Tragödie, und ich versuche sie zu verstehen – das ist, glaube ich, historisch auch nötig. Gut 20 Jahre nach dieser Zeit sind wir jetzt reif, und mit diesen Vorgängen, diesen schrecklichen Verwirrungen, auseinanderzusetzen. Wenn ich das erzähle, dann geht es nicht mehr um die Frage, haben die Recht oder nicht. Mir geht es um die menschliche Seite. Im Film wird von Helga erzählt, die ursprünglich eine junge Lyrikerin ist. Deren ganze Biographie wird geschildert bis zum Terrorismus; das hat mit einer Ulrike-Meinhof-Existenz zu tun.

FR: Das könnte ja sehr provokant werden.

Reitz: Ich fürchte mich nicht vor Provokationen. Ein Film über diese Zeit kann daran nicht vorbei. Es ist nicht gerade rühmlich, wie unsere Gesellschaft mit dieser Jugend umgegangen ist. Die hat damals sehr viele Fragen gestellt, die Reaktionen der Staatsmacht als Ausdruck der damaligen öffentlichen Meinung waren sehr unangemessen. Was haben wir davon, wenn wir einen internen Frieden schaffen um den Preis des Verlustes unserer Ideale. Das demokratische Ideal ist damals niedergeknüppelt worden, und das war historisch ein großer Fehler.

FR: Schabbach in „Heimat“ ist ein „Kunstort“, der in der ganzen Welt, selbst in Japan als Heimat empfunden, angenommen wurde. Die „Zweite Heimat“ spielt in München …

Reitz: Daß „Heimat“ auch außerhalb unserer Grenzen als Heimat gesehen wurde, so etwas passiert immer, wenn ein Kern der menschlichen Empfindungen getroffen wird. So unterschiedlich sind die Menschen offensichtlich nicht. München — das ist dennoch der gleiche Vorgang. Das Hunsrück-Dorf Schabbach ist durch ganz konkrete Erfahrungen, dort zu arbeiten und zu leben, geprägt, und doch von uns als Kunstort kreiert, weil man in ein Dorf mit 300 Seelen keine Fiktion hineinverlegen kann. Eine Großstadt wie München ist von vorneherein als fiktiver Ort geeignet. Ich kann in München Geschichten erzählen, die kein Mensch überprüfen kann. Es ist ein „unbekannter Ort“, an dem auch Poesie stattfinden kann. So ist in „Zweite Heimat“ München ein erzählerisches, poetisches „München“, das es gibt und auch nicht gibt, wie Schabbach.

FR: Vor 30 Jahren war dieses München eine andere Stadt Gab es da nicht Schwierigkeiten, wie in Schabbach den Lauf der Dinge auch im Äußeren zu rekonstruieren ?

Reitz: Sicher, in dieser Zeit wurde etwa der Olympiaturm gebaut oder zur Zeit der Schwabinger Krawalle 1962 fuhr die Straßenbahn noch in der Mitte der Leopoldstraße. Da haben wir uns große Mühe gegeben, zum Beispiel die alte Leopoldstraße in einem Modell nachgebaut. Aber unsere Möglichkeiten waren in diesem Punkt natürlich beschränkt: Man kann das Bild einer sich wandelnden Stadt nicht in dem Ausmaß wie in einem kleinen Dorf beschreiben; es genügt, wenn markante Punkte vorkommen.

FR: Sie erzählen nicht nur von Herrmännchen und seinen Künstlerfreunden, sie erzählen eine Gesellschafts-Story?

Reitz: Wir erzählen von Bodenspekulationen und Wohnraumwucher, beschreiben zum Beispiel den Abriß einer alten Schwabinger Villa und wie aus dem Erdloch riesige Wohnpyramiden hochwach sen. Solche Ereignisse spiegeln sich sehr stark in den Lebensgeschichten der Firguren. Es gibt ein paar markante Punkte: Zu Beginn kommen wir in eine Welt, in der die Jugend noch eine Reihe demokratischer Leitbilder hat wie John F. Kennedy. Seine Ermordung im November 1963 hat tiefgreifende Folgen, auch in der psychologischen Weiterentwicklung der Figuren. Das Leben in einer Großstadt ist viel stärker verbunden mit dem globalen Geschehen als das in einem Dorf.
In einem Dorf gibt es das Ewige in kleinem Maßstab; die Großstadt unterliegt raschen Wandlungen — das haben wir versucht mit in die Atmosphäre einzubringen.

FR: Sind die Menschen, die Sie beschreiben, wiedererkennbar als Ihre Zeitgenossen?

Reitz: Nein, so etwas gibt es nicht, obwohl der junge deutsche Film ein bißchen beschrieben wird. Es gibt drei Figuren, die Filmemacher sind, aber keine davon ist das Porträt einer meiner Kollegen aus diesen frühen Jahren. Dennoch erleben sie Dinge, die wir alle erlebt haben, etwa wie man Anträge für das Kuratorium Junger deutscher Film oder beim Innenministerium stellt, wie man mit viel zu wenig Geld anfängt Filme zu drehen, wie man improvisiert – „Film im Film“ wird vielen beschrieben. Aus meiner eigenen Erfahrung habe ich so viele Geschichten, daß ich nicht darauf angewiesen bin, die von anderen zu erzählen.
Diese Figuren haben von alleine begonnen zu leben, wie die anderen. Da gibt es einen Kameramann, einen Drehbuchautor und einen Regisseur, Rob, Reinhard und Stephan. Diese drei sind ein Kleeblatt; die zerstreiten sich, geraten auseinander, zu sehen ist, wie der ursprüngliche Zusammenhalt, der uns auch als Filmemacher-Generation so vereinigt hat, wie der verlorengeht. Das ist etwas, was ich heute sehr bedauere.
Wir sind ja in der ganzen Welt dafür bewundert und auch beneidet worden, daß wir Filmemacher Freunde waren, eine Clique und als solche überall aufgetreten sind, bei Festivals. Wir haben uns gegenseitig vertreten und unterstützt. Das ist heute nicht mehr der Fall, und das hat allen, die das damals erlebt haben, Schmerzen bereitet, wie das zu Ende gegangen ist, denn da war auch ein Stück Utopie im Zusammenleben. Und das habe ich auch versucht in „Zweite Heimat“ zu beschreiben.

FR: Ein wehmütiger Blick zurück also?

Reitz: Es gibt sehr viel Wehmütiges in diesem Film. Er hat oft so eine Atmosphäre des Abschiednehmens von vielem, Gefühlen, Hoffnungen, Plänen, die sich nicht realisiert haben.

FR: „Heimat“ war ein überraschender und ungeahnt großer (weltweiter) Erfolg. Woher nahmen Sie den Mut, diesem Großunternehmen noch ein größeres Projekt nachfolgen zu lassen?

Reitz: Ich habe meinen ersten Spielfilm 1966 gemacht und seit dieser Zeit gehofft, irgendeinmal Erfolg zu haben — das ist ja immer ein Motiv unserer Arbeit. Damit ist natürlich nicht gemeint Erfolg um jeden Preis, sondern unter Aufrechterhaltung unserer Ansprüche und der Ideale. Mit „Heimat“ ist mir das zum ersten Mal gelungen, und ich habe mich gefragt, was folgt nun?
Darauf gibt es viele mögliche Antworten: Einmal, ich fürchte mich davor und sage mir: ich habe damit viele Freunde gewonnen; die kann ich mit jedem weiteren Werk nur verlieren. Oder, ich sage: Erfolg bringt das Geld und ich benutze das, um herauszuholen, was herauszuholen ist. Oder ich sage mir: Ich setze das aufs Spiel und riskiere was, wodurch ich alles wieder verlieren kann. Zum Risiko habe ich mich entschlossen, weil ich meine, daß das Leben nur interessant sein kann, wenn ich etwas wage. In der damaligen Situation 1984/85 war das größte denkbare Wagnis, die Geschichte von „Heimat“ weiterzuerzählen; die Geschichte von Herrmännchen, dieser Figur, die die allermeisten autobiographischen Züge trägt. Aber ich hatte nicht vor, jetzt einen größeren, längeren Film zu machen. Ich hatte nur vor, mich einzulassen auf diese Erzählung. Daß sie noch umfangreicher als „Heimat“ wurde, das liegt in der Natur der Sache, das liegt an diesem Stoff, der keine andere Konsequenz erlaubt.
Am Anfang, offen gesagt, hat es doch Momente der Angst gegeben. Ich begann die Erzählung von „Zweite Heimat“ im Hunsrück, erzählte noch einmal, wie Herrmännchen nach dem Verlust seiner großen Liebe Klärchen entscheidet, das Dorf zu verlassen. Dazu mußte ich noch einmal solche Szenen schreiben, wie sie in „Heimat“ vorkommen.
Da hatte ich das Gefühl, das wird gefährlich, das wird ein zweiter Aufguß von Dingen, die ich schon einmal gemacht habe. Deshalb habe ich das immer weiter gekürzt, bis fast nichts mehr übrig blieb. Was heute übrig ist, sind 20 Minuten in 26 Stunden Film, die sich noch einmal im Hunsrück bewegen. Von da an, wo Herrmännchen in München ankommt und sich in Bereichen bewegt, die vollkommen neu sind, war die Angst vorbei.
Und wenn es dazu käme, daß dieses Produkt überhaupt kein Erfolg wäre, würde ich dennoch nichts anders machen, da bin ich ganz sicher. Ich habe diese Geschichte gemacht, weil ich nicht anders kann und weil ich das, was ich da mache, kann. Jeder, der in künstlerischen Dingen tätig ist muß den Weg gehen, auf den ihn seine Biographie irgendwo geführt hat. Wenn ich mich zu irgendwas Fremdem entschließe, dann würde ich in jedem Augenblick vor mir selbst angreifbar werden. So ist das eine Konsequenz, und die ist wie das Leben selbst.

FR: Im Kinofilm wird eine Geschichte in 90 oder 100 Minuten erzählt. Sie haben das lange auch gemacht. Mit „Heimat“ begannen Sie Ihre Geschichte in episch ausladender Form zu erzählen. War das so etwas wie eine Entdeckung für Sie, die allerdings zu verwirklichen nur im und durch das Femsehen möglich ist?

Reitz: Ich bin bei „Heimat“ darauf gekommen, daß es ein gewisses novellistisches Schemasystem gibt beim Spielfilm, daß der Spielfilm in der klassischen Dimension von 90 oder 100 Minuten allerdings eine Form hat, die eine epische Erzählweise nicht erlaubt. Deswegen sind ja auch nahezu alle Roman-Verfilmungen der Kinogeschichte schändlich. Sie verlieren ganz wesentliche Dimensionen des literarischen Vorbildes. Es wird da nur in novellistisch zugespitzter Weise die Story in ihren Hauptzügen verfolgt. Gut, es gibt Ausnahmen, aber man kann sagen, daß dem Spielfilm diese Dimension verschlossen ist — nicht aber dem Film!
Seit Anfang der Filmgeschichte gibt es Versuche in der autonomen Form, also nicht in der Nachahmung literarischer Vorbilder, erzählerische Dimensionen zu erreichen, die aus dem novellistischen Schema ausbrechen. Das ist notwendig, weil die Filmkunst eine so unglaubliche Erzählfähigkeit hat und auf der anderen Seite solche Stoffe brachliegen.
Eine andere Seite ist, wenn ich mich aus diesen novellistischen Vorgaben loslöse, dann findet das in ganz anderen wirtschaftlichen Formen statt. Dann geht es nicht mehr um die große Action-Szene und Sensationsinszenierungen, weil die untergehen in der Flut der Geschichten, die erzählt werden und deshalb ihr Geld nicht mehr wert sind. Hier geht es, so entdecke ich, um ganz andere Möglichkeiten, zum Beispiel, daß ein Dialog zwischen zwei Menschen in einer Länge, die man normalerweise nicht ertragen würde, eine Schönheit hat.
Man beginnt mit diesen Personen zu leben, vollzieht mit und nach, was die sich zu sagen haben. So stoße ich auf immer neue, vollkommen unentdeckte Möglichkeiten des Films, und da habe ich auch jeden Tag meine Freude daran. Das Risiko des Filmemachers ist ja immer sehr groß, aber ich riskiere lieber für etwas Noch-nicht-Gemachtes mein Leben, als für etwas, was andere auch schon so oft gemacht haben.

Redaktion:
Klaus Morgenstern / Ingrid Scheithauer; i.V.: Ric Folz

„Zweite Heimat“ zur Mostra von Venedig

Die „49. Mostra Internationale d’Arte Cinematografica“, das Internationale Filmfestival auf dem Lido von Venedig, wird einen Tag früher als geplant (1.—12. September) beginnen.
Grund: Der „vermutlich längste Film der Kinogeschichte“, den der deutsche Regisseur Edgar Reitz im Sommer fertiggestellt hat. Sein Titel: „Die zweite Heimat“, seine Länge: 26 Stunden. Am 31. August wird die Mostra mit den ersten acht Stunden eröffnet, am darauffolgenden Tag folgen die nächsten acht. Danach werden täglich zweistündige Teile des Reitz-schen Filmepikers gezeigt.
Wie der Titel andeutet, setzt der von 13 Fernsehstationen produzierte Vielteiler Edgar Reitz‘ Filmepos „Heimat“ von 1984 fort. Diese elfteilige Chronik eines Hunsrückdorfs vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn der 60er Jahre war ein großes internationales Fernseh- und Filmereignis.

Reitz, der in dreijähriger Arbeit die Drehbücher für die fortgesetzte Lebensgeschichte seines autobiographischen Helden Herrmann Simon geschrieben hat, verfilmte die „Zweite Heimat“ in 522 Drehtagen von Januar 1988 bis November 1991. Die Mostra hat schon Reitz‘ „Heimat“ und Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ in früheren Jahren gezeigt. Im Konkurrenzkampf der großen internationalen Filmfestivals dürfte die Mostra mit diesem außergewöhnlichen Start nicht nur ein hohes Risiko eingehen, sondern auch womöglich einen triumphalen Gewinn verbuchen.
Wie man hört, denkt Generalintendant August Everding daran, die deutsche Premiere in einem dafür eigens umgebauten Münchener Theater zuorganisieren. Im Fernsehen wird die„Zweite Heimat“ voraussichtlich zuerst im europäischen Kulturkanal „Arte“ zu sehen sein.

Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 19.08.1992
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