Die süße Qual der ersten Liebe

So schön und auch so traurig: Immer noch steckt die „Heimat“ voller Überraschungen

Heimat, das hat Edgar Reitz in nun neun Kapiteln hinreichend deutlich gemacht, ist mehr als nur ein geographischer Begriff, mehr auch als ein nur unbestimmtes Zugehörigkeitsgefühl zu einem Fleckchen namens Schabbach – Heimat, so ließe sich nach der „Hermännchen“-Folge definieren, ist dort, wo man Zuwendung und Geborgenheit erfährt, wo man liebt und geliebt wird, wo man sich bewußt verliert und gleichzeitig findet
Diese Episode um Hermännchen und Klärchen, um die süße Lust und die süßen Qualen der ersten Liebe, um die Verwirrungen und Ängste junger Herzen: sie war so etwas wie ein Film im Film, von einer Schönheit und Traurigkeit, wie sie – bei vergleichbaren Gefühlsmomenten – in den letzten Jahrzehnten vielleicht nur Louis Malles „Herzflimmern“ gezeigt hat.
Als die beiden sich auf dem Speicher lieben, als sie durch ein Fernrohr die Welt betrachten, die für Liebende weit weg und gleichzeitig bedrohlich nah liegt, streift die Kamera auch jene von Hermännchen aufgereihten Bücher, die in den für „keine Experimente“ aufgeschlossenen 50er Jahren die „andere“ Richtung angaben. Hermann Hesse ist selbstverständlich darunter. Und es scheint so, als setze Reitz die Poesie eines „Narziß und Goldmund“ in Bilder um, als zitiere er Dichtung visuell: „Überm Rand der schwarzen langgestreckten Wälder kam der Mond herauf. Wunderbar sah er das weiße sanfte Licht über ihre Stirn und Wangen fließen … bis Schultern und Brüst nackt im kühlen Mondlicht schimmerten.“ Es ist das Hesse-Vokabular der halbwachen Sinne, der dürstenden Lippen, der rätselhaften Liebesaugen, das hier Bild annimmt.
„Heimat“ lehrt in diesen Passagen ein Stück Filmkunst, lehrt auch den Unterschied zwischen Erotik und Sex. Gudrun Landgrebe, ja nun gottlob nicht auf die „flambierte Frau“ festgenagelt ist ein erotisches Rätselwesen der verführenden Verführten, der längst wissenden Unschuldigen. Ein Glücksfall für den Film. Ein ebensolcher Glücksfall wie die Fähigkeit von Reitz, Talente zu entdecken, etwa den Münchner Schüler Jörg Richter als Hermännchen, in dessen Gesicht sich die Ängste vor der „Sünde“, junges Begehren, Träume des Erwachens spiegeln.
Ulrich Bumann

Erinnerung an eine erste Liebe: Hermann (Jörg Richter) und Klärchen (Gudrun Landgrebe).
Foto: WDR

Artikel in der Rheinzeitung vom 16.10.84
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