Rudi weiß, wo seine Heimat ist

Der Hunsrück, jenes Gebiet zwischen Rhein, Mosel und Nahe – ein bisher unbekanntes Stück Deutschland.

Was denken die Hunsrücker, wenn sie ihre „Heimat“ im Fernsehen erblicken. Wir besuchten Woppenroth, das heute schon viele
Schabbach nennen, und stellten fest – eine Fernsehserie hinterläßt Spuren.
„Waldeinsamkeit umfing mich, verödet sind die Fluren, und nirgend, nah noch fern, von Menschenwerk die Spuren.“ An diesen Gedichtvers des Schriftstellers Ausonius muß ich denken, als ich mich „der Mitte der Welt“ nähere. Es ist heute wirklich noch vieles so wie damals 368 n. Chr., als der Römer von Mainz nach Trier über den Hunsrück reiste. Die Orte sind klein, viel Wald gibt es und wenig Industrie, die Straßen sind schmal und führen immer noch meistens von Dorf zu Dorf.

Die Sonne lugt hinter dunklen Wolken hervor, als ich über Simmern nach Kirchberg fahre. Ich erzähle Wolfram Wagner, Lehrer und Heimatschriftsteller, von einem Opa aus Simmern, daß „er sich geschämt hat“ vor seinem Enkel, als die Bordellszenen im Teil zwei der Serie „Heimat“ gezeigt wurden. Wagner, in dem Film der „Mäthes Pat“, resümiert: „Ja, vielen fehlt halt die Action. Bei den besagten Bildern in Folge zwei haben einige Hunsrücker ihre Sprößlinge ins Bett geschickt.“

Rolf Roth, Schüler in der Realschule nebenan, war genauso wie Wagner als Laiendarsteller für den Fernsehfilm verpflichtet worden. Es läutet zur Pause. Die Tür der 9b geht auf. Ich frage nach dem Rohrbacher Rolf. Vor mir steht Anton, der an Technik interessierte Sohn der Maria. Kraushaarkopf, stilles Lächeln in den Mundwinkeln. Inzwischen 14 Jahre alt und einige Zentimeter gewachsen. Er sagt wenig: „Ich bin ein stiller Mensch.“ Hat „Heimat“ ihn verändert? „Nein, nur die Mitschüler nennen mich oft „dat Antonsche'“. Lautes Lachen der Umherstehenden. „Dat Antonsche“ verzieht keine Miene. Genau wie im Film.

In Ravengiersburg, dort, wo sie die Weihnachtsmette gedreht haben, ist die Zeit nicht stehengeblieben. Der linke Turm des Doms ist eingerüstet. Frau Hill, die Wirtin „Zum Pferdefreund“, zeigt mir die alte Mauer. Jetzt steht da eine hohe Fernsehantenne. „Hier in unserem Frühstückszimmer war damals die Garderobe“, erzählt die Wirtin. Schnell hat sie einige Fotos zur Hand. Erinnerungen von den Dreharbeiten kommen ihr über die Lippen. Und der Film jetzt? „Ja, Wissens. Ein echter Hunsrücker bringt keine Nutte mit nach Hause. Ein Fabrikmädchen aus der Stadt wäre besser gewesen.“ Auch in Ravengiersburg, wo es ein Klosterinternat gibt, war man über Folge zwei erbost. Frau Hill: „Als Lucie die Chefin spielte, sind zwei ältere Damen, die die Serie bei Bekannten gesehen hatten, aufgestanden und gegangen.“ Frau Hill geht in die Küche und schmunzelt. Über der Tür verheißt ein grünes Schild: Ohne Bauern keine Zukunft.

Die Mitte der Welt kommt näher: Mengerschied. Im Gastraum sitzen „eineinhalb Hunsrücker“. Heinrich Maurer (75) und der Zugezogene, „der reichste Bauer vom Ort“ (Maurer über seinen Tischnachbarn). Der gebürtige Saarburger wohnt seit 40 Jahren hier. Ihm gefällt „Heimat“ nicht. Die Hunsrücker seien nicht so deppert, wie der Film es darstelle. Maurer stampft mit dem Stock auf den Boden: „Eh Rudi, dat war wie früher. Et war doch net anderser. Ich kann mich noch zurückdenke. Us Oma hat damals, als se 1904 die Wasserleitung gelegt han, zwölf Mark Unfallrente gekriegt. Mein Vatter war nur Geisenbesitzer und deshalb Mensch zweiter Klass‘. Wenn mer e Mädche gesucht han, dat wollt nur e reiche Bauer.“

An der Wand piepst ein Videospiel. „Super Tank“ leuchtet es in Computerschrift. Rechts davon geht es in den Tanzsaal, dort, wo Otto, der Straßenbauingenieur, und Maria sich näher gekommen waren.

Ich fahre nach Gehlweiler. Hier steht das Haus der Familie Simon. Zwei Karren im Hof, ein Drahtkorb mit Möhren vor der Schmiede. Weiter unten im Dorf treffe ich Richard Dämgen. Er bittet mich zum Geburtstagskaffee. Tochter Bärbel ist 22 geworden. Vier Kuchen stehen auf dem Tisch; das Service ist englisch-blau. Vater Dämgen: „Das Haus Simon gehört den Schwiegereltern meines Sohnes Heribert. Der wollte dort hinbauen nach den Dreharbeiten. Eine Genehmigung für einen Teil des Grundes hatte er bereits. Nur abreißen durfte er das Haus nicht. Da waren extra die Herren aus Koblenz gekommen.“

Und wie gefällt der Film? Heriberts Schwiegermutter ist skeptisch: „Da wird derweil rumgeschriebe, in vier Woche is alles vergesse.“ Und die zweite Folge? Richard winkt ab: „Des war doch in Berlin, net hier.“ Der neunjährigen Ellen platzt es heraus: „Der neunte Teil mit dem Hermännche ist sexy.“ Sie muß es wissen. Ihre Eltern, wie viele hier in der Gegend, haben den Film bereits in voller Länge beim WDR gesehen.

Auf dem Weg nach Woppenroth oder „Woppert“ wie die Einwohner sagen, oder Schabbach, wie bald alle sagen werden, treffe ich Hilde Küstner auf einem Kartoffelacker. Sie ist mit dem Fahrrad gekommen. Gebückt holt sie die Krummbeere aus der Erde, derweil ihr Mann im Wald Holz rückt.

Im Ort drin, an dem Wiegehäuschen, leuchtet es einem in goldenen Lettern entgegen: Made in Germany, wie „Heimat“ erst heißen sollte. Noch sind sich die „Wopperter“ über den endgültigen Standort des Steines nicht einig. Auf dem Ortsplatz, wo das Denkmal im Film stand, bepflanzt eine Frau die Blumengefäße. Die in Holz gefaßte Übersichtskarte macht es deutlich: der Tourismus hat in „Schabbach-Woppert“ schon Einzug gehalten. Fünf markierte Wanderwege, drei Gasthäuser. Ferienwohnungen, Urlaub auf dem Bauernhof. Vor dem „Haus Marita“ stehen vier Autos aus Düsseldorf. Die Mitglieder des Wanderklubs erkunden nicht nur den Teufelsfelsen, schlendern längst nicht mehr nur über die Schneppenbachfelder. Da werden auch japanische Fotoapparate gezückt, um das deutsche TV-Heimat-Dorf aufs Zelluloid zu bannen.

Das älteste Haus am Platze, das von der Lydia Jung, gehört dazu. Edgar Reitz hätte es gern als Haus für den Bürgermeister Wiegand gehabt. Aber die heute 84jährige hatte „gute Gründe, diesen Filmrummel nicht mitzumachen“. Ihr Mann war kurz vorher gestorben. Und dann war da noch die Geschichte mit ihren beiden Jungen. Sie sind in Rußland geblieben, damals. Zaghaft öffnet Frau Jung das Fenster neben der Haustür: „Dat Haus dürfense fotografiere, aber mich net.“ Im Dorf erzählt man, sie hätte mit dem Leben abgeschlossen.
Ganz neu angefangen haben die jungen Wirtsleut im ehemaligen Gasthaus Franz, auch Vereinslokal des Fußballvereins. „Im Film heißt es ja ,Gasthaus zur Linde'“, erzählt Frau Wies- Nach der Renovierung (Eichenstühle mit Polsterung) haben sie den Namen übernommen, „weil es sich besser macht“. Mannie, ihr Mann, blättert in der Fußballchronik. Ein Gast: „Der Heddergott, der von Köln, Wissens, der hat uns trainiert. Dat war in den Fünfzigern. Der kam mit dem Motorrad extra von Koblenz.“ Und während Manni von den Filmleuten erzählt und den Dollars, die das eingebracht hat, steht gegenüber Bauer Demand traurig im Hof und schaut auf den Boden. Ein Kalb ist tot zur Welt gekommen.
Am Ortsrand, beim Spielplatz oben auf der Höhe, trifft sich die Dorfjugend im „Kaisergarten“. Man flippert, oder spricht über die Bundesliga, vom Briegel, „der in Italien ganz groß rauskomme is“.
Es wird dunkel. In den Ställen brennt noch Licht. Auch bei Rudi Molz. Kurz vor acht Uhr geht er ins Haus. Zwei Männer aus der Nachbarschaft sitzen im Nebenraum, wo der Fernseher läuft. Im Gastraum ist es dunkel. Rudi Molz präpariert den Videorecorder: „Des halte mer fest.“

Edgar, der Schwager von Hilde, die auf dem Feld war, setzt sich zu mir auf die grüne Eckbank. Man wartet auf „Heimat“. Edgar schafft auf dem Flugplatz Hahn. In der Landwirtschaft hilft er nur abends mal. Bei „Reichshöhenstraße“ ist er ganz dabei, stützt seinen Kopf auf den rechten Arm. Die anderen Gäste bestellen „Stubbischer“, das kleine Flaschenbier. Im Simmerner Kino war Edgar auch dabei: „Dat is dat Edith, hat Tränen in de Auge. Dem hanse so Dinger in die Auge gemacht, daß es heule mußt.“ Frau Molz, die am Herd sitzt, die Füße auf einem Holzstuhl, summt mit, als Zarah, die „Göttliche“, singt.

Edgar: „In Mengerschied im Tanzsaal, war ich auch dabei. Sieh, da bin ich. Da, da… Ich hatte ne Holländerin als Partnerin. Stundenlang han wir tanze müsse.“
Als Otto von Maria mit Spiegeleiern gefüttert wird, lacht Frau Molz. „Wißt ihr noch? Eines Abends kam der Otto, der Herr Hube, zu uns in die Wirtschaft. Et war so gegen Mitternacht. ,Frau Molz‘, sagte de, ,ich tat so gern mal en Pannekuche esse.‘ Oder, en andere Geschieht. Dat, weiß ich noch, da saß ein alter Mann und kaute auf seinen Erbsen rum. Sein angeklebter Schnurrbart war ihm in de Supp gefalle. Ne, wat harn mir gelacht.“
Schon längst hat auch Rudi Molz seine Schlappen ausgezogen und die Füße mit den grauen Socken auf den Stuhl gelegt. Rudi erzählt von einem Flieger, der einen Blumenstrauß direkt vor die Stufen wirft. „Das kommt noch im Film.“ Dabei hebt er den Zeigefinger. Sein Blick wandert zur Wand. Dort hängt seit zwei Jahren ein großes Farbbild mit dem Filmteam drauf und persönlicher Widmung von Reitz; drumherum ein Goldrahmen.
Rudi weiß, wo seine Heimat ist.
Kurt Frank

 
Artikel in der Rheinzeitung vom 29.09.84
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