Die geleimte Schüssel und das Wundermittel Film

Vom „Erzählen“ mit der Kamera: Was den Regisseur vom Schriftsteller unterscheidet – und wo er sich wieder mit ihm trifft

Von
Edgar Reitz
 

Die Erzählkunst gibt es bestimmt schon so lange, wie es Menschen gibt, die dem Erzähler zuhören. Es gibt keine Erzähler ohne Publikum. Es muss immer jemanden geben, dem man etwas erzählt, denn die Geschichte entsteht erst wirklich in der Phantasie des Zuhörers/Zuschauers. Hier stimmt die Parallele zwischen Erzählen und „Lügen“. Das Allein-Lügen macht überhaupt keinen Sinn. Der Erzähler weiß, welche Kunstgriffe er anwendet und wo er beim Fabulieren über das Leben hinausgeht. Sein Publikum muss das nicht wissen, denn eine gute Geschichte erkennt es daran, dass sie sich so ereignet haben könnte. Sie steigert sich in die Wahrheit hinein und ist dann ganz einfach, sieht aus, als hätte es sie schon immer gegeben.

Ich kann beim Erzählen nicht allein sein. Vielleicht musste ich deshalb ein Regisseur werden und nicht ein Schriftsteller, der sich sein Publikum in der Einsamkeit der Schreibstube miterfinden muss. Ich denke, dass die ursprüngliche Art des Erzählens auch spontan und ausschließlich mündlich war.

Ich habe diese Tradition des mündlichen Erzählens noch kennen gelernt durch die sogenannten Stückelscher-Erzähler im Hunsrück, von denen mein Großvater mütterlicherseits einer war. Er konnte auf der Bank neben seiner Haustüre sitzen und mit dem Erzählen seiner Geschichten alle Kinder des Dorfes anlocken oder abends in der Wirtschaft die rohesten Bauernkerle fesseln. Ich bin sicher, dass die berühmten Mythen und Märchen der Kulturvölker auf diese Weise entstanden sind: vor der Haustüre, in der Kneipe oder in den Winternächten am Feuer. Heute entstehen die modernen Mythen im Kino oder am Fernsehgerät, das uns die Feuerstelle im Haus ersetzt hat.

Bewegte Bilder, also die Filmbilder, geben immer etwas von der Rätselhaftigkeit der Dinge wieder. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man in den Gesichtern der Protagonisten die Züge ihrer Einmaligkeit. Deswegen, und nicht allein wegen der Schauspielkunst oder wegen der spannenden Geschichte, ist das menschliche Gesicht das größte Ereignis in einem Film. Die Erfindung der Cinematographie hat uns in die Lage versetzt, die Zeit abzubilden, die in den Gesichtern vergeht. Der Film beschreibt das kostbarste Gut, das wir besitzen, die unwiederbringliche Zeit. Das hat man in der Frühzeit des Kinos auch erkannt, als man die neu erfundene Maschine „Bioskop“ nannte.

Das Filmemachen hat meine Urteile über Welt und Wirklichkeit immer wieder korrigiert und oft genug völlig über den Haufen geworfen. lch musste eine weite Kurve durch die Welt ziehen, bevor ich die heimatlichen Dinge schätzen und filmisch beschreiben lernte. Heimkehr im Sinne einer konkreten Fortsetzung der Kindheit und der Wiederherstellung der unterbrochenen Kontinuität ist aber auch durch das Wundermittel Film nicht möglich. Der Riss bleibt. Aber manchmal ist einem die geleimte Schüssel besonders teuer, denn sie erzählt uns, wie zerbrechlich die schönen Dinge sind.

Als ich in Venedig auf den Filmfestspielen einmal von einer japanischen Journalistin angesprochen wurde, die mit Tränen in den Augen behauptete, die Katharina in „Heimat“ sei „ihre“ Großmutter, und als sie weiter darauf bestand, Anton und Ernst als die Porträts ihrer japanischen Brüder zu sehen, war ich perplex: Ich hatte gemeint, meine ganz persönliche, völlig unverwechselbare Hunsrücker Geschichte erzählt zu haben. Nun war Schabbach plötzlich überall, und ich war – nirgendwo. Was ist vor dem Spiegel, was ist dahinter? Wirklichkeit und Erzählung können nicht ohne einander verstanden werden.

Deswegen will ich zum Schluss die Geschichte von Rudi Molz weitererzählen, den ich zu Beginn erwähnte. Es hat ihn wirklich gegeben, und er war der Gastwirt des Dorfes Woppenroth, wo wir damals „Heimat 1“ drehten. Er stand am 1. November 1982, dem letzten Drehtag, neben mir am Fenster und beobachtete mit mir, wie die Schauspieler, die monatelang im Dorf gelebt und die Simons, Wiegands und Schabbacher Bürger dargestellt hatten, in die Autos stiegen und abreisten. Da sagte Rudi auf einmal: „Jetzt sind sie wie die Toten auf unserem Friedhof. Wir erinnern uns an sie, und wir sind ganz sicher, dass sie wirklich gelebt haben.“

Über zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Rudi ist wenige Wochen vor dem Drehbeginn von „Heimat 3“ gestorben. Aus dem realen Hunsrückdorf ist er in den Schabbacher Himmel aufgefahren und spielt nun, verkörpert durch einen Schauspieler, in unserem neuen Film den Gastwirt von Schabbach. Er repräsentiert das fiktive Dorf wie kein anderer und beweist in jeder Szene, dass er mit seiner Äußerung am Fenster Recht behalten hat: Er ist nun selbst einer der Toten auf dem Hunsrücker Friedhof.

Aber er lebt in der Geschichte von Schabbach weiter und findet für alles, was geschieht, die passenden Worte . . . Er lebt im Spiegel der Geschichte, und wir stehen draußen und sehen ihm, dem Toten, beim Leben zu – und deswegen können wir heute sicher sein, dass es uns alle miteinander wirklich gibt.

Der Beitrag des Filmemachers Edgar Reitz ist ein Auszug aus seiner Dankesrede zur Verleihung der Carl Zuckmayer-Medaille am 18. Januar im Mainzer Staatstheater.

Artikel in der Allgemeine Zeitung vom 21.01.04
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