Carl-Zuckmayer-Medaille 2004 für Edgar Reitz

Unruhiger Geist mit langem Atem

Rheinland-Pfalz ehrt Reitz für seine „Heimat“-Filme

Der Drang, beim Filmen neue Wege zu gehen, durchzieht sein Leben. Mit dem Hunsrück-Epos „Heimat“ hat Edgar Reitz sein Lebens-Thema gefunden – und Grenzen gesprengt. Das Land Rheinland-Pfalz hat ihn nun für sein Schaffen mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet.

Der Mann hat Visionen. Er will was bewegen in seinem Leben. Er hat was bewegt… eine ganze Region – die, aus der er kommt, die er abschütteln wollte und wiederfand: den Hunsrück. Er hat Millionen deutscher Zuschauer bewegt und ein internationales Kino-Publikum. Preise gesammelt: beim Filmfest in Venedig, den Bundesfilmpreis, den Grimme-Preis in Gold. Sein Mittel: er hat erzählt. Geschichten aus der Gegend, die er, der „Weggeher“, längst verlassen hatte. Und hat es „Heimat“ genannt.

Bilder über den Zustand der Nation
Der Mann hat verdammt viel nachgedacht. Die Geschichte reflektiert, das Leben seiner Eltern, die Zustände seines Landes. Den Krieg. Die Fünfziger. Die Siebziger. Hat sie erspürt und begreifbar gemacht. Hat Stimmungen herausdestilliert, Alltagswelt von Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten. Hat sie übersetzt in Kamera-Einstellungen und Leinwand-Bilder und sie bevölkert mit Figuren, die uns ans Herz gewachsen sind. Und manchmal welchen, die furchtbar fremd waren.

Er hat „vielen Menschen den Zugang zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Lebenswirklichkeiten, eigenen Erfahrungen und Deutungen ermöglicht“, so hat es Ministerpräsident Kurt Beck ausgedrückt. Und damit begründet, warum Edgar Reitz Preisträger der Carl-Zuckmayer-Medaille 2004 ist.

Gesucht: der neue deutsche Film
Der Mann wollte Dinge anstoßen. Den neuen Film machen, nicht „Papas Kino“. Das wurde vom Sockel gestoßen, 1962 für tot erklärt – mit dem „Oberhausener Manifest“, der Streitschrift junger Filmemacher. Vordenker und Autor Alexander Kluge war dabei, sein Freund Edgar Reitz an seiner Seite. Die beiden experimentierten, drehten Autorenfilme. Gemeinsam gründeten sie 1963 eine Film-Klasse an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Bis zur Schließung 1968 hat Reitz dort unterrichtet.

Der Mann hat Dinge angestoßen. Und ist manchmal schier verzweifelt. „Es gibt keine Ehrfurcht, es gibt keinen Respekt, es gibt keine Geschichte, es gibt keine Liebe zu dem, was gemacht worden ist, es gibt kein Bedürfnis, das, was gemacht worden ist, zu erhalten, es gibt keinen Stolz auf das, was wir haben, oder getan haben.“ Das schreibt er 1982, als ein von ihm geschätztes Münchner Kino dicht macht. Und ist frustriert, weil sein Wunsch von einem „Haus des deutschen Films“ als Dokumentation und Archiv da immer noch nicht verwirklicht ist.

Ein Mammut-Projekt

Der Mann traut sich was. 1979 hat sich Edgar Reitz allein auf den Weg gemacht – mit einem Projekt, das alle Grenzen sprengt. Es heißt „Heimat“ und erzählt die Geschichte der Familie Simon. Elf Filme, 15 Stunden. 282 Drehtage. Dann dreizehn Filme, 26 Stunden. 557 Drehtage. Die „zweite Heimat“, die der junge Künstler Hermann Simon in München sucht.

Der Mann hat langen Atem. Der Mann ist besessen. Heute ist er über 70. Was treibt ihn? Gut, dass er Widrigkeiten trotzt. Dass er monate-, jahrelange Dreharbeiten auf sich genommen hat, Streit mit Co-Autoren, Wechsel von Kameramännern.

Gut, dass er bereit ist, sich zu verausgaben. Jetzt wieder für „Heimat3“. Mehr als 240 Drehtage. Und am letzten sagt er: „Ich bedaure, dass wir die Geschichte nicht zu Ende erzählen können..“.

Der Mann hat Visionen. Immer noch.


Edgar Reitz


Edgar Reitz im Jahr 1981


Szene aus „Heimat“


Dreharbeiten zu „Heimat3“


„Heimat“ – eine Jahrhundert-Chronik

Von den Kriegsjahren bis zur Jahrtausend-Wende

Regisseur Edgar Reitz begann schon in den 70er Jahren, das „Heimat“-Projekt zu entwickeln. Mit Lebensgeschichten von 1919 bis zur Gegenwart will er eine Chronik des 20. Jahrhunderts erstellen – gespiegelt in der Entwicklung eines Hunsrück-Dorfes und in den Schicksalen seiner Bewohner.

1982 wurden Ideen und Drehbücher erstmals umgesetzt: Aus dem Hunsrück-Ort Woppenroth wurde Schabbach, der Wohnort der Familie Simon. „Heimat“ zeigt ihr Leben von den 20er Jahren bis in die Nachkriegszeit, erzählt den Söhnen Ernst und Anton, vor allem aber von Paul, der seine Frau Maria mit zwei Kindern allein zurücklässt. Und von Hermann, Marias drittem Sohn, dem das Leben im Hunsrück zu eng wird.

Der Weg führt aus dem Hunsrück nach München

Knapp 16 Stunden lang und zunächst in zwei Teilen im Kino zu sehen, war „Heimat“ die Filmsensation des Jahres 1984. Das Epos wurde unter anderem bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet. Die elfteilige Fernsehfassung strahlte die ARD im September und Oktober 1984 aus. Mit zehn Millionen Zuschauern im Durchschnitt war „Heimat“ auch hier ein großer Erfolg.

Vier Jahre schrieb Reitz an den Drehbüchern zur „Zweiten Heimat“, die 13 Teile umfasste und 1991 nach 557 Drehtagen abgeschlossen war. Die 26-stündige Fortsetzung der Hunsrücksaga, die 1992 in die Kinos kam, führte in das München der 60er Jahre. Nunmehr steht Hermann Simon, genannt „Hermännche“, ganz im Mittelpunkt – seine Zeit als Musik-Student und seine Suche nach dem persönlichen Lebensweg als Künstler.

Auszeichnung in Venedig

In Venedig erhielt Reitz für „Die zweite Heimat“ einen Ehrenlöwen. Im Fernsehen – die Ausstrahlung begann im April 1993 – konnte er aber nicht an den Erfolg der ersten Staffel anknüpfen. Nur gut eine Million Zuschauer wollten die „zweite Heimat“ sehen, die erneut schwarz-weiße und bunte Bilder kombinierte.

Daraufhin hieß es zunächst, eine dritte Staffel werde es nicht geben. Im September 1994 wurde jedoch bekannt, dass Reitz einen dritten Teil seines „Heimat“-Zyklus‘ realisieren wird.

Zwischen Mitte 2002 und Herbst 2003 wurden sechs „Heimat3“-Folgen gedreht, das Team benötigte dafür 241 Drehtage. Im Mittelpunkt der Handlung steht erneut die Figur des Künstlers Hermann Simon.

Ausblick bis zur Jahrtausendwende

„Hermännche“, mittlerweile 50 Jahre alt, trifft seine große – bislang eher unglückliche – Liebe Clarissa wieder. Die beiden richten sich hoch über dem Rhein ein Haus ein, hier wollen sie gemeinsam leben. Doch vor Wechselfällen sind die beiden nicht gefeit.

Die Geschichte umfasst die Jahre 1989 bis 1999, spannt den Bogen vom Fall der Berliner Mauer zum Ende des Jahrhunderts. Ost- und westdeutsche Lebensläufe werden verknüpft, als Co-Autor schrieb der Ost-Berliner Schriftsteller Thomas Brussig mit am Drehbuch. In sechs Folgen wird der Film Ende 2004 im Ersten zu sehen sein.


Artikel bei www.swr.de vom 18.01.04
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