Fünfzehneinhalb Stunden Heimat

Ein Kraftakt der Pro-Winzler: Reitz-Epos in der katholischen Familienbildungsstätte an einem Stück aufgeführt

Fünfzehneinhalb Stunden Kino sind ein Genuss! Eingefleischte Heimat-Fans wissen das schon lange. Kino-, Reitz- und Hunsrückfans, die sich erst jetzt auf dieses Abenteuer einließen, waren rundum begeistert.

SIMMERN. Zum 4. Mal zeigte das Pro-Winzkino in Simmern den Epos „Heimat“. Es war gleichzeitig Höhepunkt und Abschluss einer gelungenen Retrospektive über den Filmemacher Edgar Reitz. 32 Hauptdarsteller, 140 Sprechrollen, 5000 Statisten, 11 Folgen als Fernsehfilm, von 1981 bis 1984 in Schabbach – einem fiktiven Hunsrückdorf -gedreht, gehört die Chronik der Familie Simon zweifellos zu den wichtigsten Werken des deutschen Filmes.
Der Film besticht durch seine Fabulierlust, seine Authentizität, seine hervorragenden darstellerische Leistungen. Zentrale Figur ist Maria Simon, deren Lebensgeschichte von der Zeit nach dem 1. Weltkrieg bis zu ihrem Tod Anfang der 80er Jahre erzählt wird. Dem Hunsrück hat Regisseur Edgar Reitz damit ein bleibendes Denkmal gesetzt. Doch liegt Schabbach nicht nur im Hunsrück, die Geschichte ist universell. Der weltweite Erfolg und die vielen Auszeichnungen sprechen für sich selbst.
Alexandra Ralko aus der sibirischen Stadt Omsk ist ebenfalls authentischer Beweiß dafür. Ihre Tochter – die in Simmern lebt – hatte der 68-Jährigen die Kinokarte geschenkt. Trotz sprachlicher Defizite war die russische Rentnerin ergriffen von dem Geschehen auf der großen Leinwand. „Das war wie bei uns in Russland“, war ihr erster Kommentar. Viele Parallelen sah sie zu ihrem eigenen Leben, zum Gang der Geschichte im Hunsrück und im fernen Sibirien. In der „Heimat“ entdeckte sie ihre eigene Heimat.
Aus Rheinhessen kam Karen Grüllich zum Kinospaß nach Simmern. Ihre ursprüngliche Heimat Dresden hat sie verlassen, und fühlt sich in ihrer neuen Umgebung ausgesprochen wohl. Trotzdem wird Dresden weiter Heimat bleiben. Der Film eröffnete ihr so manches „Fenster“ in ihr altes und neues Leben.
Begleitet wurde sie von Alexander Kessler, einem ausgesprochenen „Heimat“-Fan. Beruf und Studium trieben den gebürtigen Liebshausener durch die gesamte Bundesrepublik. Mehrfach sah er den Epos schon im Kino. „Je öfter ich mir das anschaue, je mehr sehe und fühle ich dabei“, bemerkt der Anwalt aus Bad-Kreuznach. Mittlerweile veranstaltet er eigene Seminare zum Themenkomplex Heimat.
Schon seit Wochen war die zweitägige Vorstellung ausverkauft. Aus München, Köln, Frankfurt, Paderborn, Stuttgart und Karlsruhe reisten Cineasten an. Im Gegensatz zu früheren Veranstaltungen fehlten die einheimischen Darsteller, die sich einmal selbst sehen wollten. Lokalkolorit spielte keine Rolle mehr. Ein engagiertes Publikum verfolgte mit Kissen, Popcorn, Süßigkeiten und viel Lust am Film gespannt das Geschehen. „Edgar Reitz wird endlich gewürdigt“, war die einhellige Meinung der veranstaltenden Pro-Winzler.
Dazu tragen Reportagen zu den Dreharbeiten der 3. Heimat, vielfältige Würdigungen zum 70. Geburtstag des Regisseurs und bewusstere Sehweisen bei. Manche sprechen sogar von einem regelrechten „Reitz-Boom“. Der Verlauf der Retrospektive in Simmern spricht dafür. Ausverkauft waren neben der „Heimat“ auch die „Geschichten aus den Hunsrückdörfern“, zur „Reise nach Wien“, gab’s eine Sondervorstellung. Große Beachtung fand auch ein Vortrag des Medienwissenschaftlers Professor Koebner.
Für die Pro-Winzkino-Leute war die „Heimat“ wieder einmal ein Kraftakt. 4000 Meter Film mussten auf „handliche“ 600 Meter Rollen montiert werden. Mehrere Vorführer wechselten sich ab. Kinder und Freunde der Veranstalter waren unentwegt im Einsatz, um Kaffee und Tee zu kochen, Hausmacher Brote zu schmieren, Mittagessen und „Riemelekuche“ zu servieren, die Besucher während der Pausen in der katholischen Familienbildungsstätte und dem Foyer zu verköstigen. Denn „Vollpension“ gehört zum Kinobillet.
Edgar Reitz führte persönlich die Zuschauer in seinen Film ein und beantwortete Fragen. Langanhaltender Applaus galt am Ende nicht nur dem Film, sondern auch dem einzigartigen Engagement der Pro-Winzler.
Ferdinande Altmiks aus Paderborn brachte es spontan auf den Punkt: „Wir haben großes Kino und ein Stück Hunsrück kennen gelernt“.
Werner Dupuis

Artikel in der Rheinzeitung vom 05.12.2002
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