Ortswechsel

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TECHNISCHE DATEN
Stummfilm, 21 Minuten, Spielhandlung
Darsteller:
Salome Kammer
Stefan Hunstein
Format FULL HD 1920X1250 Pixel
Drehort: München (Innenmotive) Donaueschingen Außenmotive.
Konzeption gefördert von der Siemens-Stiftung für Musik
Kamera, Filmschnitt, Postproduktion, Spezialeffekte: Christian Reitz
Regie, Konzeption: Edgar Reitz
Musik: Johannes Kalitzke
Ausführende Musiker: Ensemble Modern
unter Leitung des Komponisten

Beschreibung eines Multimedia-Projektes
für Ensemble, Frauenstimme solo, zwei Schauspieler, Live-Video und Film
von Edgar Reitz
Uraufführung auf dem Festival für Neue Musik in Donaueschingen
am 20. Oktober 2007

Grundüberlegungen
„Ortswechsel“ ist ein Versuch, eine grundsätzliche Aussage über die Beziehungen zwischen Film und Musik zu machen.

Musik ereignet sich immer im „Hier und Jetzt“. Musiker und Hörer bilden eine Gemeinschaft am Ort der Aufführung. Die Aufmerksamkeit aller konzentriert sich auf ein gegenwärtiges Geschehen. Es ist das Bestreben der Autoren und Interpreten, ein waches, in seinen intellektuellen und emotionalen Reaktionen präsentes Publikum zu erreichen. Der gute Musikhörer schweift nicht ab, lässt sich nicht in ferne Welten treiben und hört gegenwärtig. Der Ort der Aufführung ist immer bewusst. Er beeinflusst nicht nur die Akustik sondern auch das Gemeinschaftsgefühl zwischen Ausführenden und Publikum.

Film ereignet sich dagegen „draußen“ und zu anderen Zeiten. Alle Bilder, die mit Hilfe von Kameras produziert worden sind, beschreiben Menschen, Räume, Ereignisse, die sich nicht am Ort der Filmvorführung befinden oder je befunden haben. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird aus dem Saal hinausgelockt. Die Leinwand ist ein Fenster in eine andere Welt. Der Filmzuschauer verliert das Gefühl für Anwesenheit und Gegenwart. Er schweift ab in die Welten und Perspektiven abwesender Menschen und ihrer Lebensräume. Der Ort der Aufführung wird von einem bestimmten Intensitätsgrad des Filmerlebnisses an völlig gleichgültig.

Musik und Film wenden sich also gemäß ihrer Natur an ganz verschiedene Zustände ihres Publikums. Dennoch kann es zu faszinierenden Vereinigungen kommen, von denen die Filmgeschichte voll ist. Die Wahrnehmung von Bildern und Filmhandlungen wird durch gleichzeitig erklingende Musik enorm beeinflusst. Da beide Künste „Zeitkünste“ sind, die sich in exakt definierten Zeiträumen und Rhythmen abspielen, ist zudem ein innerer und äußerer Synchronismus möglich. Seit Beginn der Filmgeschichte sind die phantastischen Wirkungen von Filmen mit Musik bekannt und unzählige Male angewendet worden. Durch die Erfindung des Tonfilms wurden die Methoden der Synchronisation von Film und Musik immer weiter perfektioniert.

Die Wirkungsweise von Film, Filmbildern und Musik ist nie grundlegend erforscht worden. Allzu vielfältig sind die assoziativen und affektiven Verbindungen. Zufalls-Synchronismen und gesellschaftliche oder bildungsbedingte Wirkungen lösen bei den Zuschauern so unterschiedliche Reaktionen aus, dass sich bei der Anwendung von Filmmusik niemand sicher fühlen kann. Eine Erkenntnis muss jedoch als sicher gelten: Filmmusik ist niemals autonom. Sie kann niemals zum gegenwärtigen Ereignis am Ort der Aufführung werden und dauerhaft mit wachem und hellem Bewusstsein der Hörer rechnen. Das gilt auch, wenn die Musik während der Filmvorführung live gespielt wird. Sobald sie zu den Filmbildern „passt“ und „synchron“ ist, gerät sie in eine „dienende“, den Bildern untergeordnete Rolle. Die Musik begleitet die Filmzuschauer auf ihrer Traumreise aus dem Saal hinaus, sie wird zu einem Teil der Bilder, sie verstärkt oder färbt die Filmwahrnehmung, sie gleitet ins Unterbewusstsein hinab. In der Filmmusik hat es deswegen eine von der Musikgeschichte abgelegene Kulturgeschichte gegeben. Filmkomponisten sind Teil einer „anderen Szene“. Auch hier gibt es Erfolgsgeschichten, aber sie sind Teile der Erfolgsgeschichte der Filme. Nur selten gerät der Film in Vergessenheit, während die Filmmusik zu den Evergreens gehört.

Auch die Klangwelt der Neuen Musik kommt in Filmen vor und kann den Filmbildern zu intensiver Wirkung verhelfen. Ja, es kommt sogar oft vor, dass die üblichen Vorbehalte des Publikums gegenüber der musikalischen Avantgarde verschwinden, wenn sie im Hintergrund von Filmbildern auftritt. Vorbehalte, Geschmäcker oder Ablehnungen ganzer Richtungen der Kunst können sich nur im „Hier und Jetzt“ äußern. Filmmusik aber ist etwas, das den Raum längst verlassen hat und sich irgendwo in fernen erzählerischen Welten abspielt, in die Vorbehalte so leicht nicht gelangen.

Für einen Komponisten ist die Entscheidung, Filmmusik zu schreiben, grundlegender Natur, denn Filmmusik ist grundsätzlich fragmentarisch; sie muss jederzeit, also nach den Zeitmaßen des Films beendet werden können. Sie muss weiter darauf verzichten, bewusst und mit Blick auf ihre musikalische Qualität getrennt wahrgenommen zu werden. Filmmusik ist keine Konzertmusik. Immer wieder sind in Filmen auch vorhandene Musiken verwendet worden. Oft stammen sie aus dem klassischen Repertoire oder der Pop-Musik. Stanley Kubrick hat Johann Strauß und Györgi Ligeti nebeneinander in einem Film verwendet. Hier nimmt sich der Regisseur die Freiheit, fertige Musik zu fragmentarisieren und ihre Antriebskräfte in den Dienst seiner Bildhandlung zu stellen. Auch dieses Verfahren läßt die Musik zum dienenden Element werden. Sie verwandelt sich – jenseits ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung – in einen Teil der Bilder.

Im experimentellen (im Multimedia-) Bereich gelten die gleichen Gesetze. Auch hier bestehen die beschriebenen Wahrnehmungs-Differenzen. Solange die Filmbilder mit Kameras hergestellt werden und „Fenster“ in Welten öffnen, die sich außerhalb des Aufführungsortes und der Aufführungsgegenwart befinden, übernimmt der Film (das Video) die Führung. Das hier vorgestellte Experiment widmet sich den verschieden Wahrnehmungsformen des Raumes und lotet die Beziehungen zwischen Film und Musik neu aus.

Vorschlag für eine Film-Musik-Performance:

Nach Fertigstellung der über Jahre gehenden Produktion HEIMAT 3 erscheint das bereits 2001 entwickelte Multimedia-Projekt heute in neuem Licht. Dabei erweist sich die damalige Grundkonzeption nach wie vor als tragfähig. Die Fragestellung, wie Musik und Film zusammenwirken und welche Wahrnehmungen von Raum und Zeit die beiden Kunstmedien schaffen, ist weiterhin interessant und es beflügelt die den Regisseur und den Komponisten gleichermaßen.

SKIZZE DES ABLAUFES

In den letzten Jahren hat die digitale Bildtechnik erstaunliche Fortschritte gemacht. Neue Systeme zur intelligenten Datenreduktion, verbunden mit der Entwicklung neuer Datenspeicher, Schnittsysteme und Kameras und vor allem hochauflösender Kameras und Projektoren erlauben uns heute, hervorragende filmische Performances, die nur noch einen Bruchteil des Aufwandes und der Kosten verursachen. Die meisten Versuche, Film mit Live-Musik zu verbinden, scheitern allerdings an ihrem künstlerischen Anspruch. Das liegt daran, dass die beiden Medien völlig konträre Rezeptions-Bedingungen erfordern.

In den Seitenbereichen des Saales haben sich zwei „Fernsehteams“ aufgebaut. (=unsere Leute mit je einer mit der Regie verbundenen HD-Video-Kamera) Während das Publikum hereinkommt, darunter auch unsere beiden Darsteller, übertragen die Kameras Schnappschüsse dieses Vorganges auf die Leinwand. Die Darsteller mischen sich unter das Publikum und nehmen in der Saalmitte unerkannt Platz.
Beim Eintritt der Musiker Lichtwechsel. Auf der Leinwand schließlich nur noch die unbewegte Totale des Podiums mit dem Auftritt des Dirigenten.

Komposition für Ensemble.
Gedanklicher Titel der Musik: HIER UND JETZT
Dieses Stück ist ganz dem aktuellen Hören gewidmet. Das Leinwand-Bild tritt sehr in den Hintergrund, ist kaum beachtet.

Wir gehen also von einem Moment der „absoluten“ Musik aus, deren Struktur
als Parameter für die Synchronisation mit Bildern oder Bildsequenzen gilt.
Letztere sind ihr also noch untergeordnet; im Tonmaterial verborgen sind alle
später konkreten Signale (Handy etc.), deren Erscheinung musikalisch sinnfällig
definierbar sein sollen, um nicht als äußerlicher Gag missverstanden zu werden.

Überleitung
Im Saal ertönt ein Handy-Klingeln. Das Geräusch wird so aufdringlich, dass es „stört“. Die Klingeltöne (eigens komponiert) kommen aus der Tasche der Darstellerin, die mitten in der Stuhlreihe vergeblich versucht, ihr Handy abzustellen und in Panik die Sitzreihe verlässt. Ihr Begleiter versucht, sie zu halten. Vergeblich. (Dazu Dialoge mit verärgerten Zuschauern und ihrem Begleiter – alles inszeniert, aber realistisch)

Der Dirigent bricht sein Spiel ab, die Darstellerin verlässt den Saal. Einer der beiden TV-Kameraleute folgt der Frau nach draußen. Der „Begleiter“ der Darstellerin folgt ihr kurz darauf mit der Handtasche und ihrem Mantel.

Auf der Leinwand erscheinen die Bilder, die der Kameramann draußen von der aufgeregten Frau einfangen kann. Übergang zum vorproduzierten Film so, dass der Ort der Aufführung deutlich erkennbar wird.

DAS MELODRAMA
der vorproduziert Film hat eine Länge von ca. 21 Minuten. Er beschreibt die Erlebnisse der Darstellerin und ihres Begleiters draußen vor dem Saalbau, incl. ihrer Auseinandersetzung mit dem sie verfolgenden Kameramann. Die Geschichte, die in stilisierten Bildfolgen erzählt wird, ist die Krise einer Liebe. Die Ängste des Mannes, der die Abgründe in der Seele seiner Frau nur ahnt, verwandeln sich in albtraumartige Bildfolgen.

Der Film erscheint auf der Leinwand im Saal, Dirigent und Musiker, die das Leinwandgeschehen anfänglich ebenso verfolgen, wie das Publikum, beginnen nun einfühlsam und innerlich beteiligt, den Film musikalisch zu begleiten. Dies ist nichts anderes, als eine nach dem Film komponierte Filmmusik, die jetzt live eingespielt wird.

Das filmische „Melodrama“ beschreibt nicht die wirklichen Schauplätze, sondern in zunehmendem Maße die Angstvisionen des suchenden Mannes. Hier spielt das Handy der Frau wieder eine Rolle: Es leitet den Mann zu fremdartigen Schauplätzen weiter und bringt die Texte ins Spiel, die am Ende von der Frau gesungen werden.

Am Ende des Films ist die Darstellerin mit ihrem Schmerz allein. Dies ist der Moment, in dem der Film nichts weiter als ein ruhiges Bild anbieten kann. Die seelischen Tiefen des Schmerzes kann mit den filmischen Mitteln nicht mehr weiter aufgeschlossen werden. An dieser Stelle tritt die Darstellerin aus der Leinwand heraus auf die Bühne.

Das Lied
Nur die Musik vermag die Tiefe und die Allgemeingültigkeit dieses Momentes darzustellen. Hier wird auch eine Antwort auf die Frage gesucht, warum der Mensch singt, warum die Bühne der natürliche Ort für Kunstgesang im Musiktheater ist.

Das lyrische Ich, das sich hier äußert, spricht von Schmerz, Liebe, Trennung, Tod, Trauer. Der Text stammt von einer irischen Dichterin.

Komposition für Stimme und Ensemble, die Musik löst sich wieder aus ihrer unter-
stützenden „Film – Musik“ – Rolle, ebenso wie das Innen- Außen – Vexierspiel der
Handlung sich wieder verändert hat.

Technische Realisation
Anordnung im Saal: Podium für ein Ensemble mit ca.15 Musikern, darüber eine die gesamte Breite ausfüllende Leinwand ( Format 16:9 ) von ca. 4,5 Metern Höhe
dazu hochauflösender lichtstarker Beamer, der wegen der Lüftergeräusche in einem Schallschutzgehäuse untergebracht wird,
Beleuchtung, für Podium und Saal, die nach Ablauf steuerbar ist,
zwei Live-Kameras mit je einem Kameramann,
eine kleine Regiezentrale, von der aus die Einspielung des vorproduzierten Films und die „Live-Verfremdungen“ gesteuert werden können. Speichermedien auf Festplatten mit Schnittcomputer.
Weiteres technisches Personal bei der Aufführung: 1 Lichttechniker, 1 Operator in der Regie, 1 Tontechniker, Regisseur

15 Musiker, Dirigent
Die Darstellerin und Sängerin
ein Darsteller (Nebenrolle)

Vorproduktion des Mittelteils
erfolgte im Sommer 2006
Montage und Postproduktion im Jahre 2007

Quelle: ehemalige Internetpräsenz www.Edgar-Reitz.com