In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod

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Mit Alexander Kluge

Produktionsdaten 
 Regie Alexander Kluge
 Edgar Reitz
 Regie-Assistenz Vit Martinek
 Drehbuch Alexander Kluge
 Edgar Reitz 
 Kamera Edgar Reitz
 Alfred Hürmer
  Kamera-Assistenz Alfred Chrosziel
Ausstattung Edgar Reitz
 Alexander Kluge
 Schnitt Beate Mainka-Jellinghaus
  Schnitt-Assistenz Heidi Handorf
 Ton Burkhard Tauschwitz
 Dietmar Lange
 Musik Richard Wagner
 Giuseppe Verdi
 Alexander Kluge (Musik-Dramaturgie)
 Edgar Reitz (Musik-Dramaturgie)
 Produktionsfirma RK-Film (Edgar Reitz Filmproduktion/Kairos Film)
 Produzent Edgar Reitz
 Alexander Kluge
 Produktionsleitung Dagmar Rehmer
Aufnahmeleitung Jürgen Bieske-Feddern
 Format 16mm – Blow-Up 35mm, 1:1,37
 Bild/Ton s/w, Ton
 Länge 2452 m, 90 min 
 Prüfung FSK-Prüfung: ab 16 Jahre / feiertagsfrei:
 Nr. 47082, 02-Januar-75
Uraufführung München, Leopold 2 18-Dezember-74
 Darsteller Dagmar Bödderich
 Jutta Winkelmann
 Kurt Jürgens
 Alfred Edel
 Norbert Kentrup
 Willi Münch
 Jutta Thomasius
 Hans Drawe
 Christoph Gierke
 Utz Rausch 

IN GEFAHR UND GRÖßTER NOT
BRINGT DER MITTELWEG DEN TOD

Spielfilm, 35 mm, Länge: 2460 m, schwarz/weiß Format: 1:1,33
FSK: ab 16 Jahren feiertagsfrei
FBW: Prädikat: besonders wertvoll

Produktion:  

RK-Film, München, 1974
RK-Film, Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, ist die gemeinsame Produktion von Edgar Reitz und Alexander      Kluge, der Film ist, was Drehbuch, Regie und Ausstattung betrifft, in allem eine Teamarbeit von Edgar Reitz und
Alexander Kluge


Der Film beschreibt zehn Tage Frankfurt/Main im Februar/März 1974, gesehen mit den Augen zweier Frauen, der Beischlafdiebin Inge Maier und der Spionin Rita Müller-Eisert.

Zum Inhalt:

1.Die Geschichte der Inge Maier

Beischlafdiebin ist eine Triebrichtung, keine Prostitution. Interesse für den Körper, zugleich Interesse für die Brieftasche. Lustprinzip und Realitätsprinzip in einer Person praktisch vereinigt. In zertrümmerter Gestalt hat jeder Mensch solche zugleich libidinösen und kapitalistisch durchwachsenen Augen. Unrealistisch ist nicht Inge Maier. sondern die Tatsache, daß eine so allgemein verbreitete Haltung uns unrealistisch erscheint.
Stationen:
„Inge Maier hatte immer das Gefühl, in den falschen Film zu geraten.“ „Gibt es ein Leben vor dem Tod?“ „Der Untergang der Titanic.“ Auszug aufs Land, das für Inge als Berufsfeld eher unwirtlich ist. Selbsttröstung durch ein Kindergedicht, verfaßt vom Frankfurter Arzt Dr. Hoffmann („Struwwelpeter“).
Was der Mann für Unsinn macht, Er gießt Wasser in das Glas, Immerzu, wie dumm ist das. Und es läuft und läuft und läuft, bis darin die Stub‘ ersäuft. Sieh, der Stuhl steht tief darin, Hundchen schwimmt her und hin Und zwei Schiffe fahren auch Dort mit Segel und mit Rauch Von der Babett‘ an der Tür Sieht nur noch der Zopf herfür!

2.Die Geheimagentin Rita Müller-Eisert

„Die Agentin läuft nicht davon, sie läuft überall hin: eine ‚hochqualifizierte Fachkraft‘, die indessen ihrem Auftrag nicht genügt, ihrem Agentenführer dadurch den vaterländischen Verdienstorden vermasselt, die keine Fakten liefert (die seien sowieso im Wirtschaftsteil der FAZ nachzulesen), sondern sich von ihrem Agentengefährten, der „Marx im Original liest“, dazu bewegen läßt, die bundesrepublikanische Wirklichkeit „an der Basis“ auszuspähen, der Ufa-Melodramen die Tränen in die Augen treiben, die zum Treff nicht kommt, weil sie lieber mit einem Mann unter die Decke kriecht, eine Realistin der Spionage, die langatmige Berichte liefert, von denen ihre Auftraggeber meinen, es sei Agentenlyrik, geeignet, im Potsdamer Marchwitza-Haus rezitiert zu werden.“ (Dieter E. Zimmer)
„Augen aus einem anderen Land“. Es sind Profi-Augen, aber mit der Tendenz zu der  elementaren menschlichen Trieb-Grundlage hin abzusinken: Wissensdurst pur. Dies ist, wenn man von der Praxis des Spionage-Gewerbes ausgeht, sicher eine unrealistische Annahme. Aber nur deshalb, weil solche Realisten nicht massenhaft vorkommen. Das würde Ritas Arbeitsweise rasch verbessern. Der Film beharrt auf einen Punkt wenig über Null, weil das realistisch ist. Die Guillaume-Affaire war zur Drehzeit nicht bekannt. Hätte man versucht, sie zu erfinden, wäre das nicht weniger unrealistisch erschienen, als Ritas Ansatz. „Mir kommt das Ganze wie im Kino vor“ (Willy Brandt).

3.Die Sprechweise öffentlicher Ereignisse

Trillionen km seitlich an der Erde vorbei  erforschen Astrophysik-Experten Dunkelsterne. Sie praktizieren Aufklärung. Ein bunter, karnevalistischer Abend der Frankfurter Polizei. Jungunternehmer üben, wie man ohne Rabatt auf seine Interessenlage sich in der Öffentlichkeit artikuliert. Wie zimmern Hausbesitzer eine Barrikade? Ein Faschingsprinz fordert auf: „Komm mach mit, lach dich fit“, wie? Ein Polizeipräsident definiert, was ein Politrocker ist, wie? Ein Großbagger reißt als erstes ein Transparent nieder, dafür ist er nicht gebaut; statt ein Autowrack sachlich, wie es sich für ein technisches Gerät gehört, von rechts nach links zu rücken, spielt er damit Katz und Maus, er „spricht“ ideologisch. Etwa 3ooo Studenten liefern an den Abrißhäusern Bockenheimer Landstraße/Schumannstraße, Faschingssamstag, der Polizei eine Schlacht; 4oo ooo Frankfurter stehen, unbezahlt, einen ganzen Tag am Faschingszug: Man muß es aushalten, so etwas wahrzunehmen und dennoch sich nicht ohnmächtig zu fühlen.
Der Film produziert nicht Aussagen, sondern Proportionen; einen Gegenstand, mit dem man sich auseinandersetzen kann. Wir gehen von der Beobachtung aus: daß es keine die einzelnen Arbeitsbereiche, Produktionsmilieus übergreifende Erfahrung gibt, jedenfalls nicht organisiert. Lediglich die Scheinöffentlichkeit bildet eine Ordnung und Einheit, z.B. in den Medien. Der Abgeordnete Bieringer z.B., spezialisiert auf die große Übersicht, bezahlt diese Übersicht damit, daß er von nichts irgendetwas Genaues weiß. Wir nehmen also an, daß ein die Milieugrenze überschreitendes Erkenntnisinteresse nur etwa so realistisch ist, wie unsere Inge Maier oder die Spionin Rita. Die Frage heißt: Wie geht man mit einer ungeordneten Wirklichkeit um? Wie lernt man inmitten von Irrtümern? Wie geht man mit verzerrten objektiven und subjektiven Eindrücken um (siehe z.B. Flüsterdialog der Gardistinnen S.17). Man muß sich auf den Rohstoff Wirklichkeit einlassen. In ihr und nicht in den Abstraktionen liegt die Substanz für Bewußtsein. Das ist nicht resignativ.

4.Häuserräumung Schumannstraße 69,71; Bockenheimer Landstraße 111, 113.

Am „dicken Donnerstag“, 21.2.74, wird um 4 ° früh das Gebiet um die fünf besetzten Bürgerhäuser Schumannstraße/Bockenheimer Landstraße von starken Polizeikräften abgeriegelt. Gegen 5.30 früh beginnen Bagger der Firma Lippert den Abriß. Bis 17 Uhr ist die Straßenzeile zur Bockenheimer Landstraße hin „umgelegt“. (Abrißunternehmer Lippert). Innerhalb der Polizeiabsperrung um 14 Uhr: Kinderfasching. Fast gleichzeitig auf der Zeil Demonstration und Straßenkampf.
Am folgenden Tag Fortsetzung der Abrißarbeiten in der Schumannstraße. Möbelpacker haben am Vortag das Mobiliar nur oberflächlich geräumt. Hausbewohner retten ihre Sachen.
Am 23.2.74 (Faschingssamstag) ruft der ASTA zu einer Morgendemonstration, die aus dem Stadtzentrum zum Westend marschiert. Zur Bewachung der Trümmer Schumannstraße/Bockenheimer Landstraße ist eine Polizeitruppe von etwa 3o Mann nebst einem Wasserwerfer abgeordnet. Auf der rechten Straßenseite der Bockenheimer Landstraße, vom Wasserwerfer beschossen, bricht die Masse  der Demonstranten durch und greift (aus einer Nebelwand heraus) die Polizeitruppe mit Steinen an. Die Geschehnisse führen kurz nach Aschermittwoch auf dem Unterbezirks-Parteitag der SPD zu Auseinandersetzungen. Der Polizeipräsident ergreift das Wort.
Es geht uns um ein Elefantengedächtnis in Bezug auf solche Tatsachen. Inmitten des Massenmediums Kino, das zugleich durch „Ein Mann sieht rot“, „Chinatown“, „Robin Hood“, „Die zehn Gebote“ gekennzeichnet ist, drücken die Proportionen der wirklichen Häuserräumung die sonst neunzehnminütige Spielhandlung zurück; zugleich halten wir an einem Rest von Kinohandlung fest,  an der sich die Proportionen messen lassen (das Übergewicht objektiver Ereignisse), die aber auch, solange Menschen in ihren Köpfen Romane bewegen, etwas ununterdrückbar Reales ist.
Wir sind der Ansicht, daß alle Beteiligten ihr Öffentlichkeits- und Realismuskonzept an diesem Film überprüfen könnten.

Quelle: ehemalige Internetpräsenz www.Edgar-Reitz.com