Filmstunde

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„Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution
der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis“
Bela Balazs

Regie
Edgar Reitz

Drehbuch
Edgar Reitz

Kamera
Dedo Weigert
Thomas Mauch

Schnitt
Beate Mainka-Jellinghaus

Ton
Klaus Eckelt

Produktionsfirma
Edgar Reitz Filmproduktion (Ulm) im Auftrag von Bayerischer Rundfunk (BR) (München)

Produzent
Edgar Reitz

Aufnahmeleitung
Bernd Hoeltz

Länge
110 min

Format
16mm, 1:1,37

Bild/Ton
s/w, Ton

Zum ersten Mal  ist an einer deutschen Schule der Versuch unternommen worden, Film zu unterrichten.   Einen Monat  lang, insgesamt  16 Stunden,  erteilte der Autor und Filmregisseur Edgar Reitz 13-14 jährigen Schülerinnen eines Münchner Mädchengymnasiums Filmunterricht.
FILMSTUNDE ist eine Dokumentation dieses Versuchs.

Schülerinnen der 8. Klasse des Luisengymnasiums in München, also Mädchen im Alter von 13 bis 14 Jahren, wurden im Mai und Juni 1968 in Film unterrichtet.
Die Möglichkeit, diesen Versuch durchzuführen, verdanken wir der Initiative der Deutschlehrerin dieser Klasse, Frau Magdalena Boettcher und dem Studienprogamm des Bayerischen Rundfunks, der den Versuch finanzierte. Frau Boettcher hatte in ihrer Klasse den „Schimmelreiter“ von Storm durchgenommen. Dabei stellten die Schülerinnen Fragen in Bezug auf eine Verfilmung des Stoffes, die sie im Fernsehen gesehen hatten. Man diskutierte in der Klasse die Frage, ob es möglich ist, Literatur in angemessener Form in Film zu übersetzen. Es ergab sich eine Flut von Fragen, die Schüler und Lehrer nicht beantworten konnten. So entstand der Kontakt, aus dem heraus sich der Plan entwickelte, zum ersten Mal seit es Film gibt den   Versuch zu unternehmen, Film in einem normalen Gymnasium zu unterrichten.
Die Kunsterzieherin der Klasse, Frau Kempmann, stellte ebenso wie Frau Boettcher Unterrichtsstunden zur Verfügung, in denen der Filmunterricht abgehalten werden konnte. Die Direktorin , Frau Dr. Lesmüller, holte sich die Genehmigung der Schulbehörde dazu ein. Wir stellten einen regelrechten Lehrplan auf. Im Laufe von vier Wochen wurden 16 Stunden Unterricht in der  Klasse abgehalten, in weiteren zwei bis drei Wochen gab es eine Reihe von Einzel- und Gruppenterminen, wobei wir mit den Schülerinnen entweder Spaziergänge durch die Stadt unternahmen, in Cafes diskutierten, auf öffentlichen Plätzen filmten oder in Einzelterminen Filmschnitt und Montage unterrichteten.

Filmstunde – Ein Bericht von Edgar Reitz

Im Mai und Juni dieses Jahres habe ich am Luisen-Gymnasium in München den Versuch durchgeführt, in einer Schulklasse Film zu unterrichten. Über diese Arbeit wurde zu gleicher Zeit ein Dokumentarfilm gedreht, der in 120 Minuten ausführlich diese Arbeit in Form einer Fernsehsendung darstellt. Es handelte sich um eine Klasse von 13-jährigen Mädchen, die Klasse 8 A, eines humanistischen Gymnasiums. Die Idee, einen solchen Versuch durchzuführen, ist während meiner fünfjährigen Tätigkeit als Dozent am Institut für Filmgestaltung in Ulm entstanden. In dem von Alexander Kluge und mir im Jahre 1962 gegründeten Institut werden junge Regisseure und Filmautoren ausgebildet nach dem Ideal des Kinos der Autoren. Diese Idee vom Autorenfilm ist noch näher zu beschreiben. Die Arbeit mit den Ulmer Studenten (Durchschnittsalter 23 – 24 Jahre) stieß immer wieder auf eine bestimmte Schwierigkeit, nämlich die kritische Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Sprachverhalten der Studenten. Die filmische Ausdrucksfähigkeit war immer in dem gleichen Maße entwickelt oder behindert wie auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Studenten. Das Problem der Übermittlung technischen Wissens und der formalen Beherrschung des Mittels Film war immer verhältnismäßig einfach im Vergleich zu der Schwierigkeit, den Zugang zu den Themen der Studenten zu schaffen und ihnen Methoden zu zeigen, die sie in die Lage versetzen zum Beispiel Erlebnisse und Erfahrungen konkret zu beschreiben. Die Erziehung, die hinter der sprachlichen Verfassung der Studenten stand, hatte offensichtlich immer wieder solche Zugänge schwierig gemacht. Das Auseinanderklaffen zwischen normal hochentwickeltem abstrakten Denken und einer Hilflosigkeit gegenüber allem Konkreten, praktisch Realisierbarem ist typisch für den „gebildeten Menschen“. Das gleiche Problem finden wir im politischen Leben bei der Linken. Die Linke hat seit je das abstrakte Denken, die Sprache der Universität für sich erschlossen, blieb immer wieder nur abstrakt und während sie gedanklich recht behielt, gehörte die Praxis immer nur der Rechten.Im politischen Leben mag ein solcher Zustand der Teilung der menschlichen Intelligenz auch zeitweise möglich sein. Beim Filmmachen entsteht damit eine Katastrophe von Anfang an. Der Schriftsteller kann sich in dem Sprachgewand der Gebildeten verstecken. Er wird, wenn er sich sprachlich seiner Gruppe gemäß verhält, auch zur Formulierung seiner Lage kommen können. Der Filmmacher muß aber was er denkt inszenieren oder in der Wirklichkeit aufsuchen, muß eine schwierige Technik von Bild- und Tongeräten auf Gedanken ansetzen, muß mit erheblichen Finanzmitteln operieren und schwierige Organisationsprobleme bewältigen. Insofern nützt es dem Filmmacher nicht, wenn er ein abstraktes Denktraining mit dem Sprachverhalten der gebildeten verbinden kann und insofern einer ist, der „sich formulieren“ kann. Die Teilung von Theorie und Praxis, die in unserem Bildungssystem gerade immer dann propagiert wird, wenn man sie „zusammenführen“ will, wenn man der Theorie die Praxis „hinzufügen“ will.
Unsere Arbeit in Ulm führte aus solchen Erfahrungen heraus oft zu der Überlegung, daß eine sinnvolle Filmbildung im Kindesalter in den Schulen ansetzen müßte. In Anbetracht unseres Schulsystems aber blieb diese Idee eine abstrakte Utopie, bis zum Frühjahr dieses Jahres.
Eines Tages rief mich die Deutsch-Lehrerin der Klasse, Magdalena Boettcher, an. Sie suchte einen pädagogisch interessierten Filmfachmann, der im Rahmen des Deutsch-Unterrichts mit den Kindern die Frage diskutiert, wie eine optimale Übertragung von Literatur in Film möglich ist und wie man Literaturverfilmungen beurteilen kann. Frau Boettcher hatte in ihrer Klasse den „Schimmelreiter“ durchgenommen. Einige Kinder hatten die Verfilmung der Novelle im Fernsehen gesehen. Nun wurde heftig diskutiert und keiner konnte die Frage beantworten, ob die Verfilmung irgendeine Wichtigkeit zu den Themen des Deutsch-Unterrichts hat. Die Einladung, eine solche Frage mit der Klasse zu diskutieren, war für mich der seit Jahren gesuchte Anlaß, mit einer Schulklasse über Film überhaupt zu sprechen und so die Begeisterung dafür zu wecken, gemeinsam Film zu machen und Film zu verstehen. Unter dem Vorwand, den Schimmelreiter zu diskutieren und anhand der hierbei entstandenen Fragen, auch konkrete Filmerfahrung in
der Klasse zu vermitteln, erhielt ich die Erlaubnis der Schulleitung, die sich wiederum bei der Schulbehörde und durch eine Einverständniserklärung der Eltern abgesichert hatte. Die Deutsch-Lehrerin und die Kunsterzieherin
der Klasse stellten an vier aufeinanderfolgenden Samstagen insgesamt 16 Unterrichtsstunden für meinen Versuch zur Verfügung. Mit Einverständnis der Eltern der Kinder konnten wir außerdem an Nachmittagen während dieser vier Wochen mit den Kindern in kleinen Gruppen weiterarbeiten. Ich hatte mir von Anfang an vorgestellt, mit diesen Kindern einen ähnlichen Unterricht zu machen, wie ich ihn seit Jahren mit den Studenten in Ulm durchführte. Das bedeutete, daß die Diskussion über Film allgemein nicht ohne die Anschauung der Filmtechnik und von Filmen stattfinden sollte, daß zu gleicher Zeit das Erlernen des Umgangs mit den Geräten und den formalen Möglichkeiten des Films nicht stattfinden, sollte, ohne die Diskussion von Stoffen, indi-viduellen und von der Gruppe gewünschten Themen. Ein solcher Versuch ist teuer, weil jedes Kind gleichberechtigt an die Filmtechnik herankommen muß, weil der freie Zugang zu Geräten, Material und Ideen organisiert werden mußte. Ich habe mich deswegen an das Fernsehen des Bayerischen Rundfunks gewendet und konnte das Münchner Studienprogramm davon überzeugen, daß ein solcher Versuch notwendig ist. Das Fernsehen konnte jedoch die Arbeit nur fördern, wenn dabei ein Film entstand, den das Fernsehen für eine Sendung als Gegenwert für seine Förderungsleistung erhielt. Unter dem Titel FILMSTUNDE bereitete ich deswegen zugleich einen Dokumentarfilm über den Versuch vor. Fach längerer Überlegung kamen wir zu dem Schluß, daß die Kinder selbst mit dem Super-8-Format arbeiten sollten. Diese Amateurtechnik ist heute soweit entwickelt, daß eine Reihe von Funktionen der Kamera vollautomatisiert sind, das heißt, der Umgang mit der Kamera ist verhältnismäßig leicht. Außerdem sind die Geräte auch in der Große und im Gewicht für Kinder besonders geeignet. Die Firma Braun stellte eine Anzahl ihrer Nizo-Kamera für den Versuch kostenlos
zur Verfügung. Diese Kamera erlaubt sämtliche Techniken, die dem professionellen Film zugänglich sind. Zum Teil ist diese Kamera auch bereits geeignet, Aufnahmen zu machen, die der großen professionellen Filmtechnik fast nicht zugänglich sind. Nach dieser Vorbereitung war es möglich, jedem Kind eine Kamera zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte die Herstellung meines Dokumentarfilms über die eigene Arbeit den Vorteil, daß auch ich mit meinen Mitarbeitern vor den Augen der Kinder ununterbrochen filmte und mich mit den Problemen der Technik und der filmischen Formulierung ebenso herumschlug mit meinem Stoff wie die Kinder mit ihren Stoffen.
Das Grundkonzept für den Unterrichtsversuch leitete sich aus dem bereits erwähnten Ideal des Autorenfilms her. Bewegungen wie die Nouvelle Vague in Frankreich, das New American Cinema, entsprechende Entwicklungen in Italien, Brasilien, England und Skandinavien und nicht zuletzt der sogenannte „junge deutsche Film“ gingen von diesem Gedanken des Autorenfilms aus. Man versteht darunter eine Filmgattung, die sich im kulturellen Leben der Gesellschaft ansiedelt und die ähnlich zustandekommt wie die klassischen Künste Malerei, Musik oder Literatur: ein Autor-Regisseur trägt die volle künstlerische Verantwortung für den Film. Er erfindet und realisiert seinen Film als schöpferisches Einzelindividuum» Seine VorStellungswelt beruht auf dem Ideal der Individualität und der kulturellen Vereinzelung. Der Regisseur des Autorenkinos versteht sich in einem Dialog mit einer Menge von Individuen im Kino. Die Themen des Autor-Regisseurs sind deswegen häufig autobiographisch, zumindest aber aus der Welt der persönlichen Erfahrung dieses Autors abgeleitet. Autorenfilm in diesem Sinne waren im Grunde alle wesentlichen Werke der Filmkunst, ohne daß bei der Generation unserer Väter und Großväter das „Kino der Autoren“ ausdrücklich formuliert wurde. Bedeutende Filmautoren der Vergangenheit wie Fritz Lang, Josef von Sternberg, Renee Clair, Sergeji Eisenstein, Charles Chaplin, Max Ophüls und viele andere, vermochten es,sich zeitweise aus der Abhängigkeit von der Filmindustrie, in der sie lebten, zu lösen, um ihre Filmkunstwerke hervorzubringen.
In unserer Zeit war diese Filmkunst zu einem Alibi der Fllmbranche geworden, die ihre aus kommerziellen Gründen zu verstehende Kunstfeindlichkeit hinter der Verehrung
der Filmkunstheroen tarnte und so Jeden in dieser Richtung sich bewegenden Nachwuchs konsequent unterdrückte. Die Nazis hatten in Deutschland außerdem die Filmkünstler der zwanziger Jahre ausgerottet oder in die Emigration gedrängt. Die Ufa ha.tte die Mentalität der Unterdrückung monopolisiert, So waren die herrschenden Verhältnisse der fünfziger und sechziger Jahre aus dem Erbe der Ufa-Mentalität zu verstehen. So entstand der Schlachtruf der Jungen, „Opas Kino ist tot“ und die Forderung, dem Autorenfilm innerhalb des Kulturgeschehens unseres Landes einen gesicherten Platz zu verschaffen.
Ich bin selbst als entschiedener Anhänger dieser Idee vom Kino der Autoren aufgewachsen. Ich habe auf dem Gebiet des Kurzfilms nach dieser* Vorstellung gelebt und bereitete zum Beispiel in der Oberhausener Gruppe und im Institut für Filmgestaltung in Ulm die Durchsetzung dieses Gedankens auf allen Gebieten des Films als eine notwendige Idee vor. Das Autorenkino hat also zwei Wurzeln

  1. die Opposition gegen die kommerzielle Filmbranche mit ihren Herrschaftsansprüchen, ihrer Nachwuchsfeindlichkeit und ihrem Zutatendenken,
  2. die Zugehörigkeit zum kulturellen Leben, der Glaube an die Kunst und der Idealismus, sich im kulturellen Bereich zu bewähren. Man wollte im Film den allgemeinen Wettbewerb mit allem aufnehmen, was sonst bestimmend für die kulturelle Situation war. Wir vergleichen bedeutende Filme mit bedeutenden Werken der Literatur oder der Musik und suchten Freundschaft und Gedankenaustausch mit Künstlern anderer Gebiete,

Der Autorenfilm gab für unseren pädagogischen Versuch einen Grundgedanken ob, der sich wesentlich von möglichen anderen Konzepten unterscheidet, nämlich daß persönliche Erfahrungen und aus der Sicht des Individuums als wichtig erkannte Gedanken filmisch prägnanter zu vermitteln sind. Ea ging uns darum, den „inneren Film“ filmisch wiederzugeben. Wir stellten uns vor, daß Assoziationen, Erinnerungen, Vorstellungen oder Zusammenhänge, die dem persönlichen Erfahrungsbereich entsprechen, mit der Kamera leichter beschrieben werden können als zum Beispiel der Satz „Er war ein urgezogener Junge.“. Der Film bietet zunächst sehr viel weniger Deckbegriffe an, zwingt mehr zum Hinsehen als zum Urteilen als die Sprache.
Bei Mädchen einer höheren Schule war zudem damit zu rechnen, daß sie immerhin schon soviel Bildungsverhalten gelernt hatten, daß sie dem Gedanken des Autorenkinos näher standen als der Filmbranche, die sie bestenfalls als Fernsehkonsumenten kennen konnten. Obwohl sich der Gedanke des Autorenkinos heute in einer Krise befindet, die er nicht überleben wird und obwohl, ich selbst seit mehr als einem Jahr die Probleme des Autorenfilmgedankens an mir selbst erlebe und um Konzepte ringe, mit denen man die Alternative Kunst und Geschäft hinter sich zu lassen vermag, bin ich nach wie vor der Meinung, daß von allen zur Zeit realisierbaren Konzepten das Autorenkino das geeignetste ist, um daraus Anaätze für pädagogische Arbeit über Film zu entwickeln. Das Kino der Autoren hat viele Freiheiten errungen, doch zeigt sich, daß die Freiheit der Kunst unverständlich bleibt ohne eine allgemeine Emanzipation des Menschen. Solange die Autorenfilmer wiederum eine Klasse für sich bilden und solange sie innerhalb der Mauern bleiben, die heute Bildung und Kultur um sich herum errichten, tun sie nichts anderes als die kommerzielle Filmbranche, deren Mauern man niederreissen wollte. Man polemisierte gegen die „Fachleute“, in deren Händen der Film verkommen sei, wurde dabei aber selbst zum Fachmann, zum Beispiel zum Fachmann in dieser Polemik. Meine These hieß deswegen „Jeder Mensch kann Film machen und jedes Kind kann es lernen» sich in dieser Sprache auszudrücken.“ Daß die Vermittlung des technischen und formalen Wissens über Film wesentlich einfacher ist als die Filmbranche mit ihrer Zunftmentalität zugeben wollte, hatten die Autorenfilmer schon herausgefunden. Nun sollten es auch Kinder herausfinden. Meine nächste These hieß „Wenn Kinder in Massen anfangen zu filmen, dann läßt sich der Gedanke des Autorenfilms dadurch überwinden, daß demonstriert wird, daß jedes Kind ein Filmautor ist.“ Meine Hoffnung war dabei, daß sich nach dieser Erfahrung neue Arbeitsformen einstellen, zum Beispiel als Gruppenarbeit. Was uns Erwachsenen mit unserer Konkurrenzerfahrung und unserer Wettbewerbsangst nicht ohne weiteres möglich ist, ist den Kindern, das sei vorweggenommen, im Laufe dieses Unterrichts gelungen.
Zu Anfang des Unterrichts gingen wir von sprachlichen Übungen aus. Unsere in der Diskussion erarbeitete Grundüberlegung war, daß Filmemachen bedeutet: eine Mitteilung machen. Film ist also ein Kommunikationsmittel, ebenso wie die Sprache. Der Deutsch-Unterricht betrachtet die Sprache nicht so. Im Deutsch-Unterricht ist Sprache etwas was kultiviert werden soll. Indem man die Pormenwelt der Gebildetensprache vermittelt, indem man sich mit Literatur, Vergangenheit und Bewertungen von Sprachphänomenen beschäftigt, legt man sich ein den Bildungszielen der Schule gemäßes Sprachgewand an. Die Erfahrung vom Deutsch-Unterricht ist nicht die, ein Kommunikations mittel handhaben zu lernen, sondern die, sich sprachlich in der Gruppe der Gebildeten anzusiedeln. Wir veranstalteten in der Klasse eine kleine Übung, die veranschaulichen sollte, daß auch die Sprache in der Lage ist, konkret zu beschreiben, ähnlich wie eine Kamera. Wir verteilten unter den Schülerinnen ganz verschiedene Gegenstände, wie Puppen, Trinkbecher, Lippenstift, Schuhe, Schmuck, mit der Aufgabe, diese Gegenstände auf einem Platt kurz zu beschreiben. Die Beschreibungen sollten so sein, daß man die Gegenstände aus einer Fülle gleichartiger Gegenstände wieder herausfinden könnte. Die Dinge wurden nun eingesammelt und in großen Kisten mit Unmengen anderer gleichartiger Gegenstände vermischt. Die Mädchen tauschten nun ihre Zettel untereinander aus und gaben sich untereinander die Aufgabe, die beschriebenen Gegenstände mit Hilfe der Beschreibung wieder herauszufinden. Bei den gutgemachten Beschreibungen gelang dies auch ohne weiteres. Wir diskutierten nun die Frage, worauf das beruht, daß man in Worten vermitteln kann, was man sinnlich erfahren hat. Wir kamen darauf, daß wir nicht unmittelbar eine Wahrnehmung in Worte umsetzen, sondern daß wir mit der Wahrnehmung zuerst eine Vorstellung verbinden und daß wir dann die Vorstellungen, die wir von den Dingen haben, sprachlich vermitteln. In einem weiteren Versuch haben wir diese Vermutung bestätigt. Wir verteilten noch einmal andere Gegenstände. Die Mädchen durften sich die Dinge drei Minuten lang von allen Seiten her ansehen, sie betasten und erforschen, dann wurden die Dinge eingesammelt. Jetzt fertigten die Mädchen Beschreibungen aus dem Gedächtnis an. Wir verglichen die aus dem Gedächtnis gemachten Beschreibungen mit der Beschreibungen, die aus der unmittelbaren Anschauung geschrieben wurden und stellten fest, daß hier gar kein wesentlicher Unterschied auftrat. Also war es wohl die Vorstellung von den Dingen, die man sprachlich vermittelte. Wir diskutierten nun das Abbildungsprinzip der Kamera und die Möglichkeiten der Kamera, Mitteilungen zu machen. Die Filmkamera zeigt, so stellten wir fest, die Dinge nicht in ihrem gesamten Realismus, nicht grundsätzlich naturalistisch. Die Kamera enthält eine große Fülle von Möglichkeiten, die Abbildung zu verändern und das Bild zu manipulieren. Ja, wir stellten sogar fest, daß immer manipuliert wird, weil man ja die Kamera irgendwo hinstellen muß und irgendwie einstellen muß. Selbst wenn solche Entscheidungen gedankenlos geschehen, bleiben sie Entscheidungen. Also sagten wir, es ist nicht wahr, daß man mit der Kamera die Gegenstände einfach abbildet. Wenn wir aber die Methoden der Abbildung in der Hand haben, müssen wir uns fragen, wonach richten wir diese Methoden ein. Wach dem Gegenstand selbst kann man sie nicht einrichten, denn der Gegenstand selbst ist immer nur der Gegenstand selbst. Folglich richten wir die Kamera nach unseren Vorstellungen ein, die wir von dem Gegenstand haben, nach unseren Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken, die wir mit den Gegenständen verbinden. So vermittelt aber die Kamera so wie die Worte, die wir vorher benutzt haben, eine Vorstellung von den Gegenständen und nicht die Gegenstände selbst. Indem wir aber unsere Vorstellungen von einer Sache einem anderen Menschen mitteilen, kann er selbst wiederum mit dieser Vorstellung den Dingen gegenübertreten.
Wenn wir sagen, unser Film spricht von einem Haus, in dem es viele Gänge gibt und einer dieser Gänge führt in einen bestimmten Kellerraum, in dem es etwas zu holen gibt, zum „Roispiel ein. Fahrrad, dann wird das Kind, dem eine solche filmische Mitteilung gemacht wird, nicht nur den Weg zu dem Fahrrad finden, sondern es wird such die Lust empfinden, sicb dorthin zu begeben und sich das Fahrrad zu nehmen, wenn der Autor dieser Mitteilung mit dem Fahrrad die Lust am Radfahren verbindet. Nachdem wir am ersten Tag lange die Frage diskutiert hatten, was das heißt, eine Mitteilung zu machen, beschäftigten wir uns mit der Frage „Was ist ein Filmautor?“. Die Mädchen waren zwar der Meinung, daß Vorstellungen und Erfahrungen immer nur von einem einzelnen formuliert werden können, daß aber der Zugang“ zu neuen Erfahrungen nicht immer von einem einzelnen geschafft werden kann. Wenn wir also Film nicht nur dazu verwenden, das was wir erlebt haben und wissen, mitzuteilen, sondern zum Beispiel auch dazu, etwas was wir noch nicht kennen in Erfahrung zu bringen oder unser Wissen mit Hilfe eines Films zu vermehren, dann wird der Einzelautor allein sein und nicht sehr weit kommen. Er wird immer nur seinen zufälligen persönlichen Zugang suchen, wird also immer den neuen Gegenstand vor Augen haben und dabei sich selbst verlieren. Wenn er aber einen Partner hat, zum Beispiel, könnten die beiden sich in ihrem Interesse gegenseitig wachhalten und von verschiedenen Seiten her an die Sache herangehen, ohne zu befürchten, daß die ganze Arbeit scheitert, wenn einmal einer nichts zu sagen hat. So kann er dann persönlich sich entspannen und entspannt macht er wieder mehr Erfahrungen als in der Anspannung. In diesen Fällen, fanden wir heraus, müßten Autoren in Gruppen zusammenarbeiten.
Während aller unserer Gespräche filmte mein Filmteam mich, die Kinder und sich selbst. Die Schüler hatten also die Filmkameras und die Möglichkeiten, sich mit der Kamera zu beschäftigen, von Anfang an vor Augen.
Bald machten die Schülerinnen auch Vorschläge, was mein Team filmen sollte. Die Kinder dirigierten den Kameramann und den Tonmeister und verlangten bestimmte Formen der Darstellung dieser Diskussion in der Klasse. Der Unterricht blieb bis zuletzt ausgelassen heiter. Bald schon brachten wir die Mizo-Kameras mit in die Klasse. Die Mädchen konnten während unserer gesamten weiteren Diskussion mit ihren Kameras spielen. Sie konnten sich mit den Knöpfen vertraut machen und alles einmal ausprobieren. Schließlich wurde der Wunsch laut, selbst zu filmen und auch über Themen und Geschichten zu sprechen, die die einzelnen Mädchen verfilmen wollten. Andererseits hatte unsere Anfangsdiskussion eine Reihe von Fragen ausgelöst: Wenn man schon mit Hilfe der Kamera alles mögliche manipulieren kann und so in die Lage kommt, mit der Kamera Vorstellungen von Dingen zu formulieren, dann wollen wir auch alles wissen, was man mit Kameras und den sonstigen Methoden des Films erreichen kann. Von diesem Zeitpunkt an hatte unsere Arbeit zwei Interessenrichtungen und wir verabredeten die verschiedenen Dinge, die jetzt zu tun waren, uns etwa, so aufzuteilen, daß wir in der Klasse uns immer wieder über die Möglichkeiten der Kamera, der Montage und des Filmemachens zu unterhalten. Ansonsten aber das Klassenzimmer zu verlassen und in kleinen Gruppen über Themen zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit sollten die Mädchen dann auch außerhalb der Schule mit ihren Kameras üben. Die Mädchen stellten Gruppen zu vier oder fünf Kindern zusammen, mit denen wir uns in Cafes, in der Stadt oder in meinem Büro trafen. Bei diesen Gesprächen mit den Kindern versuchten wir, uns vorsichtig an die Zentren des Interesses und der Dinge heranzutasten, die die Schülerinnen liebten. Die zuerst genannten Themen der Schülerinnen waren häufig vermittelte Themen, Klischees, mit denen sie ihre eigentlichen Interessen tarnten. Oft kamen auch die typischen Fleißthemen zum Vorschein, die dem Leistungsprinzip der Schule entsprachen. Wir versuchten aber, den wirklichen Interessen, der Erfahrung und der Phantasie der Kinder entsprechenden Themen herauszufinden. Bei 13- bis 14-jährigen sind die Zugänge zu diesen Inhalten schon nicht mehr so leicht wie bei kleineren Kindern.
Es dauerte oft stundenlang, bis ein Mädchen überhaupt formulieren konnte, was ihm Spaß macht, für welche Themen es sich interessiert, welche Erlebnisse es gern filmisch weitererzählen würde. Die Bemühungen um diese Themenzugänge haben sich allerdings ganz besonders gelohnt und es hat sich wieder bestätigt, daß die Fragen der formalen und technischen Bewältigung von Filmideen verhältnismäßig un-wichtig werden, wenn die persönliche Beteiligung so groß ist wie bei den Themen, in denen Erfahrung, Wissen und Liebe zusammenkommen. So entstanden nach mehrtägiger Arbeit in den Arbeitsgruppen 26 grundverschiedene Themen, die die Mädchen verfilmen sollten. Die Liste dieser Themen ergibt ein so breites umfassendes Bild, daß allein hierin der Beweis liegt, daß die Materie Film Kindern ohne weiteres voll zugänglich ist.
Man muß zum Teil schon neue filmische Kategorien erfinden, um die Themen der Mädchen zusammenzufassen.

Fünf Filme sind kurze Spielfilme, deren Handlung erfunden und mit Darstellern inszeniert wurden:
„Der Zauber Kirkes“
„Fuchs und Hahn“
„Wünsche“
„Eine wunderbare Reise ins Märchenland“
„Krimi“.
Fünf Filme könnte man bezeichnen als „Beobachtungen mit der Kamera“. Die Mädchen gingen von einem allgemeinen Interesse aus, das sie mit der Kamera präzisierten:
„Grüß Gott, Grüß Gott“
„STadtbummel“
„Die Polizei“
„Mütter“
„Alte Leute (schimpfen)“.

Vier Filme sind regelrechte Dokumentarfilme, denen eine exakte Recherche vorausging, ehe die Schülerinnen die filmische Darstellung planten:
„Bruder Timofey“
„Die Stars von morgen“
„Vom Wasser in die Pfanne“
„Eine Zeitschrift wird gedruckt“.

Fünf Filme geben Bild-Assoziationen wieder. Die Schülerinnen haben sich Pegriffe oder Vorstellungen als Ausgangspunkte gewählt und dann die Bilder dazu mit der Kamera gesucht:
„Maispaziergang „
„Was mich ekelt“
„Wetter, Wald, Hunde«
„Wut“
„An was mich Hänsel und Gretel erinnert“ .

Erlebnisse, die nicht ohne weiteres gefilmt werden konnten, wurden in zwei Fällen nachinszeniert:
„Reiten ist schön“
„Keine Menschenseele ist dagewesen“.

In zwei anderen Fällen wurde der Versuch gemacht, Meinungen über eine Sache filmisch zu äussern:
„Die Eitelkeit des Mannes“ „Junges Gemüse“ .

Schließlich unternahmen drei Mädchen ganz direkt das, was bei allen Themen mehr oder weniger mitschwingt – die Selbstdarstellung:
“ Verkleidung“
„Sie könnte mich stechen“
„Ein Tag auf dem Lande“.

Daß wir gerade diese Klasse für den Versuch auswählten, entspricht keiner besonderen Systematik« Wahrscheinlich wäre eine Volksschulklasse mit jüngeren Kindern oder eine gemischte Klasse mit Jungen und Mädchen für den Versuch repräsentativer gewesen. Die Mädchenklasse eines humanistischen Gymnasiums brachte auch all die Probleme von höherem Bildungsverhalten und höherem Konsumdenken in den Unterrichtsverlauf, denen wir durch unsere kritische Einstellung zum Autorenkino zu entgehen trachteten. Andererseits wer ich glücklich,diesen Versuch als ersten Beginn durchführen zu können und verzichtete deswegen gern zunächst darauf, den Fragenkomplex der Schulreform und die Kritik unseres Bildungssystems voll miteinzubeziehen. Um die Formen der obrigkeitlichen Wissensvermittlung ganz hinter sich zu bringen, müßten natürlich auch wir Filmleute bereits unsere Bezugssysteme viel weiter geändert haben, als dies bis heute der Fall ist. Vor Beginn des Unterrichts habe ich mir von den Mädchen aufschreiben lassen, welche Filme sie in ihrem Leben gesehen haben. Ich wollte wissen, an welche Filmerfahrung ich im Gespräch anknüpfen konnte. Die Liste der Filme, die die Mädchen kannten, enthielt einen traurigen Querschnitt durch das Programm der deutschen Kinoverleiher. Ein Programm, das dadurch zustandekommt, daß nur gewisse Filme für Kinder freigegeben sind. In ihrem bestreben, das Kino sauber zu halten, veranstaltet diese Filmselbstkontrollstelle in Wiesbaden unbewußt ein katastrophales Jugendprogramm. Ich habe deswegen der Mädchenklasse zwei Filme vorgeführt, die erst ab 18 freigegeben sind.« „Zazie“ von Louis Malle und „M“ von Fritz Lang. Beides Filme, von denen man sagen kann, daß sie nicht gesehen zu haben ein ebenso großes Bildungsmanko ist wie zum Beispiel Schiller oder Thomas Mann nicht zu kennen. Zu unserer Information ließ ich mir auch von den Mädchen aufschreiben, wer in der Familie einen Fernsehempfänger hat. Die Mädchen, deren Notenbewertung in den Schule sonst am höchsten liegt, hatten zuhause keinen Fernseher, ein Zusammenhang, den ich nicht weiter untersuchte, der mir aber leicht interpretierbar erscheint. Die Pernsehgegnerfamilien sind meist die konservativen, Autoritärbildung vertretenden Familien.

Das kulturelle Leistungs- und Bewährungsklima ist in solchen Familien natürlich am stärksten. Das Klassenzimmer verwandelte sich an den Samstagen vier Wochen lang in ein kleines Filmexperimentierstudio und wir diskutierten oft auch in Anwesenheit anderer in der Klasse unterrichtenden Lehrer, was auf den Verlauf der Stunden keinen Einfluß hatte. Unser Hauptthema: Die Kamera. Systematisch untersuchten wir sämtliche Möglichkeiten, an der Kameraeinstellung Veränderungen vorzunehmen. So definierten wir den Begriff der „Einstellung“ als die kleinste Einheit filmischer Aussage. (Eine Einstellung nennt man im Sprachgebrauch des Films das Stück Film, das zustandekommt, während die Kamera läuft. Wird die Kamera abgeschaltet und wieder eingescheitet, so entsteht eine neue Einstellung.)
Wir beschäftigten uns zuerst mit den Kamerabewegungen -Schwenks, Fahraufnahmen, Kranbewegung und wir ordneten diesen verschiedenen Bewegungsarten die möglichen Motivationen für solche Kamerabewegungen zu.
Die Demonstrativbewegung zeigt Zusammenhänge oder stellt sie als Aussage her. Die Passivbewegung verfolgt einfach Bewegungen oder bewegte Gegenstände» Die Aktivbewegung versucht, eine innere Bewegung des Filmmachers auf die Kamera zu übertragen.
Hierzu wurden im Gespräch Beispiele gebildet und die Mädchen machten sich bewußt, daß sie ihre Kamera immer aus irgendwelchen Gründen bewegen oder nicht bewegen. In der gleichen Weise untersuchten wir die Wirkungen von Licht, Perspektive, Objektivbrennweiten, Schärfe, Laufgeschwindigkeit der Kamera (Zeitlupe, Zeitraffer) und Ton, wobei wir uns insbesondere der Gegenüberstellung von synchronem und asynchronem Ton widmeten. Nachdem wir so herausgefunden hatten, daß sich jede größere filmische Aussage aus solchen Einstellungen zwangsläufig zusammensetzt, improvisierten wir eine Art filmische Syntax. Wir suchten Vergleiche mit der Sprache und sagten, die Einstellung ist einem Satz vergleichbar oder einem Satzteil.
Mehrere Sätze hintereinander gesetzt ergeben das, was man eine Sequenz nennt. Filmische Einstellungen, die „auf Anschluß“ gedreht sind, das „heißt, in denen eine fortlaufende Bewegung von Einstellung zu Einstellung weitergeführt wird, sind keine selbständigen Sätze. Erst bei der Beendigung der Bewegung, die dargestellt wird, schließen wir den Satz ab. Ein Satz von Kleist wurde analog in Filmeinstellungen umgesetzt und so lernten wir, wie ein Drehbuch geschrieben wird. Das Thema Montage, das gedanklichst schwierigste Thema der Filmästhetik, entwickelten die Mädchen ganz spontan, während sie in ihrer Freizeit an den Nachmittagen bereits alles mögliche für die Realisation ihrer eigenen Filme organisierten. Ehe wir uns in der Klasse wieder trennten, haben wir die vielen Ideen zum Thema Film, die hier entwickelt wurden, nach wieder verworfen und festgestellt, daß das Ganze ein Spiel war. Die Mädchen fanden, daß man das alles, was wir jetzt begriffen hatten, auch andern hätte sagen können. Dann waren die Mädchen allein für sich. Während sie ihre 26 Kurzfilme drehten (jedes Mädchen bekam von mir drei Filmspulon, das sind ungefähr 10 Minuten Film) blieben sie ohne Aufsicht. Ich wollte spontane Gruppenbildungen unter den Kindern durch meine Anwesenheit nicht verhindern und wollte auch vermeiden, daß die Selbständigkeit im Denken, die im Klassenzimmer geübt wurde, nun draußen beim praktischen Filmen wieder verloren geht unter dem Einfluß einer Aufsichtsperson, die auf „Ordnung“ achtet. Die 26 Kurzfilme, die so entstanden, haben zusammen eine Vorführdauer von über drei Stunden. Da jedes Mädchen ein anderes Thema hatte, sind die Filme untereinander auch nicht mehr vergleichbar, eine Bewertung der Arbeit ist im einzelnen auch nicht möglich. Verschiedene Filmkritiker, die die Arbeiten der Mädchen gesehen haben, waren erstaunt über das Bewußtsein, das sich in diesen Filmen formuliert. Die Kinderfilme sind auch nicht vergleichbar mit künstlerischen Bemühungen erwachsener Filmautoren. Sie setzen zum Teil neue filmische Kategorien, mit denen wir uns noch lange beschäftigen werden.

Als die Aufnahmen der Mädchen aus dar Kopieranstalt zurückgekommen waren, gab es noch einmal eine Reihe von Gruppenarbeitstermlnen. Ich verabredete mich mit den Mädchen und meiner Cutterin in meinem Büro. Hier wurden dann die Filme in 26 Einzelterminen geschnitten. Dabei lernten die Mädchen die Technik des Filmschnitts und bestimmten selbst Reihenfolge und Ablauf ihrer Einstellungen, machten also ihre Montage selbst. Vier Filme wurden im Hinblick darauf, daß sie in der Fernsehsendung zitiert werden sollten, von den Mädchen auch vertont. Schließlich trafen wir uns an einem Spätnachmittag mit den Schülerinnen und ihren Eltern in einem Raum der Schule und führten sämtliche Filme vor. Dann sagten uns die Eltern ihre Meinung über den Versuch, den wir zwei Monate lang durchgeführt hatten. Die Eltern lobten den Teamgeist ihrer sonst untereinander heftig rivalisierenden Kinder. Sie sagten, daß die Mädchen während der Zeit des Filmens „ein Herz und eine Seele“ waren. Getadelt wurde, daß die Filmerei einen negativen Einfluß auf die sonstigen Arbeiten für die Schule hatte. Eine Mutter sagte mir „Sie geben den Kindern ein Bonbon und nehmen es ihnen anschließend wieder weg“. Wenn die Mutter es so gemeint hat, wie ich es verstanden habe, hatte sie recht. Aber die Hoffnung, solche Versuche zu wiederholen und vielleicht eines Tages, dann aber nur mit der Absicht Freiheit und Aufklärung damit zu erreichen, Filme überhaupt als Fach in der Schule einzuführen, ließ mir wie vielen anderen Beobachtern und Freunden das Experiment sinnvoll erscheinen.
Unter der Überschrift „Filmästhetik als Pflichtfach“ berichtete die Süddeutsche Zeitunga kürzlich über pädagogische Experimente in Ungarn. Nach den Vorschriften eines Lehrbuches wird in ungarischen Schulen Film als der Sprache gleichwertiges Ausdrucksmittel gelehrt. Allerdings bleibt der Unterricht abstrakt, weil die Kinder nicht selbst filmen dürfen. Die New Yorker Undergroundfilmerin Shirley Clark filmt seit zwei Jahren mit Kindern, die sie auf der Straße anspricht. Auch Shirley Clark möchte erreichen, daß die Kinder, wenn sie filmen, sich selbst und ihre Beziehungen zur Umwelt formulieren lernen.

Natürlich ist auch das Fernsehen an diesen Dingen interessiert, weil das Bildungsprogramm zum Beispiel sich sein Publikum erst heranbilden muss, um so, wie es gemeint ist, wirksam zu sein.
Wir hören, dass die Schule häufig gegen das Fernsehen der Kinder Stellung bezieht. Man kann aber nicht sagen, dass zwischen Schule als Institution und den Fernsehanstalten der Tendenz nach Widersprüche bestehen. Das Fernsehen ist von den gleichen gesellschaftlichen Orientierungen geleitet und bemüht sich um die Vermittlung der gleichen kulturellen Werte wie die Schule. Ich verstehe deswegen die kritische Position der Schule gegen das Fernsehen als das Konkurrenzstreben zweier Institutionen. Unberührt hiervon bleibt die Tatsache, dass alle unsere Kinder außerhalb der Schule reichlich Erfahrungen mit Film machen, dass ihnen diese Sprache im täglichen Leben etwas durchaus Gewohntes ist und dass sie überall dort, wo Film als von der Schule noch nicht integrierte Vulgärsprache auftritt, ziemlich viel Vergnügen macht. Solange Film als eine noch nicht in den Bildungsbereich voll integrierte Sache erlebt wird, besteht in der Beschäftigung mit Film eine wirkliche Chance für die Kinder.

Quelle: ehemalige Internetpräsenz www.Edgar-Reitz.com